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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 2 (Novemberheft 1921)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Neuere skandinavische Erzählungen, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0123

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In alledem prägen sich die typischen Unterschiede der Völker aus: dort
mehr Natur, mehr Unmittelbarkeit, eine ruhigere spiegelhaftere Auffassung,
ein gemächliches Tempo, geringere Spannung und einfachere Empfin-
dungen, oft ein engerer Gesichtskreis, nach außen verbunden mit ungleich
tieferer Tonlage des schlichten Gesühls; bei uns Verwicklungen, Proble-
matik, heftige Spannungen, vielfältig-bewegte Empfindungen, ein weiterer
Gesichtskreis, abgeschwächte Urgefühle, im günstigen Fall aber auch die ge°
waltigere und entschiedenere Kunst. — Alle Schemata solcher Art sind
freilich bedenklich, da Werte und Minderwerte verschieden verteilt sind und
da es sich nie um geschlossene Gruppen eines Typus handelt, sondern dies-
seits und jenseits nur um ein Vorwalten gewisser Züge. In Andersens
neuen Büchern mischen sich Vorzüge und Schwächen der skandinavischen
Art besonders deutlich. Immerhin bleiben sie prachtvoll lebendige Zeug-
nisse einer besonderen Art.

Betrachtet man dagegen I. V. Iensens, des Kopenhageners, Erzäh-
lung „Das verlorene Land", so faßt uns wie bei dem ärgsten Kaffeehäusler
aus dem Aentrum der modernen Betriebsgroßstädte der Iammer an. Eine
Spottgeburt aus der Sehnsucht der Literaten nach primitiven Empfindun-
gen und Leidenschaften und aus feuilletonistischer Blasiertheit; Iensen
schildert Urzeitvölker, anthropoides Hordenleben — bald hingerissen durch
die eigenen Phantasien, bald mit der witzelnden Äberlegenheit des halbge-
bildeten Smokingträgers — zum deutlichen Beweis, daß Kopenhagen sehr
nahe bei Berlin liegt. Daneben wiederum gedenken wir Laurids Bruuns,
seines Landsmannes. Einst hat auch er den Ekel vor der Zivilisation zu-
tiefst gespürt und sich nach Zantens Insel geflüchtet. Dann führte
sein Weg zu der reinen, naturhaften Religion vom „Unbekannten Gott".
NoH immer ist er nun von der typischen Problematik des Kulturmenschen
aus der vordersten Linie nicht losgekommen. In dem neuen Roman
„O and a" knüpft er an die selige Insel und an den Gottsucher-Roman an.
Ein Kind des Gottsuchers wächst auf der Insel auf, fern fern von Amerika,
der Heimat seines verstorbenen Vaters. Rein, einfach, gläubig, sanft, ein
Gotteskind schlichtesten Wandels und Glaubens. Diese Oanda führt Bruun
mitten hinein in das Wirrsal amerikanischer sozialer Verhältnisse und
politischer Kämpfe. Mit der Milde eines Franziskus, aber auch mit der
Hilflosigkeit des vereinzelten Machtlosen wagt sie sich in das Räderwerk
der modernen Gesellschaft. Ergebnis und Erfolg bleiben zweifelhaft: die
innigste Verehrung für die junge „Heilige" ergreift die Massen, den rück-
sichtslosesten Bekenner der Machtmoral bekehrt das schlichte Mädchen zu.
Herzlichkeit und Güte; aber Bruun müßte ein viel schlechterer Darsteller
der großen Zusammenhänge sein, wenn wir nicht von seinem Buch selber
das Wissen mitnähmen: letztlich ist nichts gewonnen — diese Welt wird
weiterwirbeln und Oanda bestenfalls die Schutzherrin einer Sekte und die
Geliebte eines Bekehrten bleiben. Das Problem der Kulturveredlung ist
gestellt, doch nicht einmal die Richtung der Lösung genügt. Innerhalb
seines Problemkreises ist das Buch „Oanda" freilich ernst, in seiner Gemüt-
wirkung ist es sicherlich stark und tief genug. Daß es etwas banal im Stil
wie schon der Nnbekannte Gott, mehr die Farbe des europäischen Durch-
schnitts als der skandinavischen Eigenart trägt, ist dabei selbstverständlich.
(7>ie freieste und kühnste Bekundung nordischen Geistes — sein stärkster
-^norwegischer Künder ist Hamsun, sein reinster dänischer Träger mag
jetzt seit Knudsens Tode wohl Svend Fleuron sein! — haben wir diesmal

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