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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1921)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Zu den Weihnachtseinkäufen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0170

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anderseits viel „verdienende" Rnreife und Kurzsichtige, aber jetzt auch
wirklich Entartete beherrschen die Straßen und die Genußstätten der großen
Städte. Zumal Äbelwollende schließen daraus nicht etwa: so sind Deutsche,
sondern: jetzt sind die Deutschen so — sie sehen weder dle Darbenden, ja
Verhungernden, die sich zurückhalten, ja verkriechen, noch sehen sie die
moralisch oben Gebliebenen, die in Werkstätten und an Schreibtischen mit
wahrer (Lnergie noch an der Arbeit sind. Aber auch vei diesen Hundert-
tausenden sind die Vorbedingungen zur Selbsterhöhung unsres Volkes nur
selten schon so durchgedacht und durchgefühlt, daß ihnen ganz klare Leitbilder
etwas gäben. Ich will auf das Zersetzen mit Klassen-- und Parteihaß heute
nicht eingehen, das wir uns zur Freude der Entente selbst in diesen Zeiten
der schweren Not noch nicht abgewöhnen konnten. Aber den Kulturfor-
derungen, die wir uns unermüdlich stellen und betätigen sollten, müssen
wir doch auch heute ein paar Worte widmen. Kann das Nichtstun in der
Alkoholfrage, das die Deutschen heut in dleser Richtung hinter allen andern
Kulturvölkern zurückhält, durch den Zwang entschuldigt werden, Geld aus
den Alkoholsteuern aufzubringen? Ist der Mißbrauch mit Nikotin, von
dem überall das neu angewöhnte Zigarettenpaffen zeugt, sind die Ein-
fuhren von Luxusartikeln für die Eitelkeit bei unserem Valutastand volks-
wirtschaftlich irgendwie zu entschuldigen? Nnd wenn hier (immer, versteht
sich, abgesehen von der Gauner- und Spielergesellschaft!) das Versagen
mehr bei den „unteren" Schichten liegen mag — was tun die „oberen",
um sich von der Nouveaute-Tyrannei der Moden zu befreien, um eine
Sachkultur zu pflegen? Was tun sie auch nur, um vor dem Krieg schon
fast allgemein gewordene Erkenntnisse über ästhetische Lebensgestaltung in
Geltung zu halten? Wo man etwas in dieser Richtung versuchte, wie beim
„Bund für Erneuerung", begegnete man da wenigstens in den Kreisen der
sogenannten Höchstgebildeten einem energisch mithelfenden Willen? Zwei
Beispiele für viele: nicht einmal den Stöckelschuhen und der gesteiften
Wäsche, die doch längst als unsinnig anerkannt waren, ist die Rückkehr
zur Herrschaft verwehrt worden. Nnd abgesehen von den Verschwendungen:
wer arbeitet jetzt mit Kraft und Erfolg gegen den Körper verschandelnden
Anfug, wie seinerzeit etwa Schultze-Naumburg gegen ihn gearbeitet hat?
Daß es noch nicht einmal gelungen, ja: daß von den Gesetzgebenden kaum
nur versucht worden ist, der Volksbildnng Vorzugsrechte vor dem Luxus-
konsum zu erwirken. Diese vielleicht bedenklichste unter allen Nnterlas-
sungssünden der Erschlafften ist kaum noch Gegenstand der öffentlichen
Diskussion. Ergeben wir uns aber, so geht es uns im Kampfe um die Kultur
nicht anders, als es uns im Weltkriege ergangen ist, als wir uns ergaben.

Benutzen wir also die Weihnachtseinkäufe zu einer Nachprüfung unsrer
„Ansprüche". Wir müssen durch unsere konsumierende Mithilfe alle die-
jenigen Gedanken zu höherer praktischer Wirksamkeit stärken und alle die-
jenigen deutschen Kulturführer-Kreise kräftigen, welche die höheren An-
sprüche über die niedrigeren stellen. Insbesondere in unsrer Iugend fehlt
es am Vorwärtswollen und dort fehlt es auch am Vorwärtsdrängen nicht,
weder unter den Organisierten noch unter den Nicht-Organisierten, die
sich für solche Tätigkeit wohl am besten organisieren sollten. Heute auf
alle da möglichen Wie und überhaupt auf das Einzelne einzugehen, würde
aber voraussetzen, daß wir außer den eigenen Anregungen und Arbeiten
auch die anderer erster Blätter und der Kulturarbeit-Bünde und der
vernünftigen Reformer überhaupt in einem Aufsatze sozusagen extrahieren

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