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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1921)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Schicksalswende der Kunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0181

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Mode tverdenden) Glasharmonika. Nie war so viel so unberechtigte Selbst-
überhebung bei Künstlern zu sehen wie heute. Sieht man aber näher hin,
so findet man oft — Philister mit veränderten Vorzeichen: der Literatursnob
ist ein ebenso bornierter Scheuklappenträger wie der von ihm verspottete
Bourgois, lediglich ist bei ihm der dürre Intellekt mehr, wiewohl nur ein-
seitig, entwickelt, während es bei jenem der Erwerbsinn ist. Kurz: von
Werfel, tzasenclever, Kaiser, von Pechstein, Nolde, Kokoschka, auch von
Schreker und Busoni führt kein direkter Weg zur neuen Kunst, weil
ihnen allen das eine noch fehlt, was immer Grundlage großer zeitloser,
sagen wir getrost: klassischer Kunst war: A n i v e r s a l i t ä t.

Kosmische Begriffstelegrammatik, ja, die ist da. Die bedeutet: tausend
einander möglichst fernliegende Dinge in Wortsignalen so dicht zusammen--
zuhäusen, daß keins der Worte Bildkraft gewinnen kann. Aniversalität ist
auch nicht zu verwechseln mit polyhistorischer Gelehrttuerei, die schon bei
einem wirklichen Könner wie Iean Paul doch nur peinlich empfunden ward.
Aniversalität des Künstlers bedeutet, daß er ein Weltgefühl habe, das
aus der kleinsten Landschaft, aus jedem Vierzeiler, aus einem Lautenliedchen
klinge, das im Mikrokosmos des bescheidensten Werkchens den Makro-
kosmos des Weltalls fühlbar mache. Nicht die erdrückende Fülle der Ge°
sichte baut da noch, sondern die natürliche Kraft des einzelnen Gesichts.
And wer nicht mitschwingt in der tzarmonie des Ganzen, kann nicht die
Harmonie desEinzelnen erleben. Also: auchtzarmonie gehörtzumKunst-
werk, es gehört dazu die Kraft, die Gegensätze in Schwung und Gegenschwung
— in Sistole und Diastole sagt Goethe — zum schwebenden Ausgleich zu
bringen. Wer nicht universal empfindet, ist weder zum lyrischen noch zum
dramatischen Erlebnis fähig. In der Tat fehlt ja trotz all den Gedichten und
Theaterstücken Lyrik und Dramatik heute so gut wie ganz, reich sind wir an
kränklichen oder wild-ekstatischen Ergüssen, die das Ich in die letzte Einsam-
keit oder in einen besinnungslosen Suggestivrausch mit der „Masse Mensch"
hineintreiben, weil Äberschau und Ichgestaltung nicht mehr möglich ist.

Aniversalität nun haben heute ein paar Weise, die außerhalb, oberhalb
des großen Kampfgewühles um den Rest der europäischen Seele stehen. Sie
leiden wahrlich deshalb nicht weniger als jene, die den Rest ihrer Leiden-
schaft dem Hasse des Tages opfern oder im materiellen Kampf abstumpfen.
Dolch, Gift und Narkotikum im eigentlichen und im übertragenen Wort-
sinn sind ja die letzten Auskunftmittel der Verlorenen. Die Halbkünstler
unter ihnen wissen auch nichts Besseres und geben diese Dreiheit in scharfem
Wortgeblink, in ätzendem Wortgezisch oder in einschläferndem Wortgeflöte.
Ihr Publikum ist äußerlich höchst mannigfaltig, in seinem inneren Wesen
jedoch ziemlich gleichartig, es braucht nur je nach seinem Zivilisationsgrad
verschiedene Dosierungen.

And doch war und ist die Arbeit dieser Kunstbolschewisten nicht ver-
gebens. Was sie zerstörten und zerstören, waren und sind Inhalte und For-
men, die sich mit ihrer Entstehungszeit, Pariser Moden gleich, erledigt
hatten und erledigen. Der Naturalismus mußte mit dem Armeleutedrama
sterben, der Strindberg-Dämonismus mit dem „Armeseelendrama'st wie
Diebold es genannt hat, der Ibsenpsychologismus vor ihm mit der allge-
mach erledigten Kritik der alten Gesellschaft und ihren stark individuali-
sierten Typen. Wer weiterhin im Kielwasser von Hauptmann, Ibsen,
Strindberg segelt, begreift seine Zeit nicht. Aufgerichtet hat der Kunstbol-
schewismus freilich nichts Neues, er wird es auch nicht mehr tun. Aber die
 
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