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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1922)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Ueber Erneuerung und Erlösung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0259

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lose Spielereieir eines verärgerten Dämons wären. Ilnd will man alles dies
nicht gelten lassen, so sind doch diese Worte nnr zu diesen Menschen ge--
sprochen, die Erneuerung und Erlösung suchen, um mit sestem Herzen ^nd
nnerschüttertem Geist in dieser Welt wirkend nud empfangend zu leben.
Ihnen aber obliegt neben Tat nnd Wesensnmgestaltnng ein Drittes, sür das
in aller Regel ihre rationalen Kräfte zuständig sind. Es ist die „Wahl"
eines Weltbildes, mindestens das Ringen um ein Weltbild. In welcher
Reihenfolge, in welchen Maßen, in welcher Verknüpfung sich in uns We-
senserneuernng und Denkarbeit vollziehen und wie beide mit der Prag-
matik des Lebens zusammengehen, das ist natürlich Sache des Einzelnen.
Einer desonderen Betrachtung bedarf nur die allgemeine und unvermeidliche
Koppelung zwischen erneuerndem „Erlebnis" und denkerischem Streben. So
nachdrücklich wir bemüht waren, das reine Erlebnis inneren Neuwerdens
herauszustellen und von allen anderen inneren Vorgängen abzuscheiden, so ist
dennoch gewiß, daß in keiner noch so labyrinthischen Brust — es sei denn
im Falle eines unbegreifbaren „Damaskns" — ein solches Lrlebnis blind und
unbegleitet von Zielvorstellungen vor sich geht. Wer immer „sucht" und nicht
nur kraft einer himmlischen Gnade „wird", vollzieht eben als Suchender
eine Wahl, erprobt äls Suchender eine Möglichkeit seines Wesens, über
die er sich „Gedanken" macht. So ist denn auch mit dein reinsten Wesens--
Erlebnis von allem Anfang an Denk-Arbeit verbunden. Nur ist ihre Lei-
stung nicht, durch Abstraktionen eine erneuerungverheißende „Lehre" zu er-
ledigen, sondern: den Wirkungradius einer Lehre abzuschätzen, eine Lehre
daraufhin zu prüfen, ob sie über die Erneuerung hinaus den endlichen
Gewinn eines Weltbildes verheißt; und etwa noch: nach begonnener Er-
neuerung den Bestand unseres Wesens an Weltbild-Gehalt zu überblicken;
im schwersten Fall: neben der besonderen Aufgabe der Erneuerung die
andere der Weltbild-Schasfung selbständig zu übernehmen mit der stillen
Hoffnung, daß selbst ein dreigespaltenes Wesen kraft unserer geheimsten
Innenmächte dereinst wieder zur frühen Harmonie sich zusammenschließe.
Ein Beispiel: Wir haben unter den Lehren, welche den Heutigen Erneuerung
verheißen, die der Hygieniker angeführt. Gleichviel, wie tief und wesentlich
eine Erneuerung nun auch ausfallen mag, welche auf dem so unbequemen
wie unwahrscheinlichen Pfade der Diät, der Abstinenz usw. versucht wird,
,zu prüsen bleibt, ob die Vamit verbundene Einstellung des Geistes Festigkeit
gegenüber dem Ansturm der „Welt" verheißt, ob unsere geistige Anpassung
an die Welt entscheidend gefördert wird durch Linsichten, die wir kraft hygieni-
schen Verhaltens und hygienischer Lernarbeit erhalten, ob der ideal hygienisch
Lebende nicht vielleicht „nur" gesund und dadurch von allerlei Leiden ent-
lastet, aber darum keineswegs angepaßter und standsester sein mag. Eine
andere Lehre will das Heil etwa abhängig machen von schlechthinniger Ver-
gütigung unseres Wesens. So wenig uns nun rationale Prüfung sagen
wird, wie weit, wie tief, bis zu welchen Fähigköiten des klaglosen Leidens und
beglückenden Tuns hin solche Vergütigung uns treiben mag, so zuständig
ist sie zu urteilen, ob gerade diese Amgestaltung des Ichs ausreicht, uns
rein durch sich selbst zu einem festen Boden gegenüber der-Problematik
nicht nur des individuellen, sondern des Gesamtlebens zu führen; und es
ist nicht nur ein Scherz, wenn man fragt: glaubt ihr mit unendlicher Güte
an den Leiden vorüberzukommen, die Leiden zu überwinden, welche diese
Zeit der Völkerverhetzung und des unaufhörlichen Brudermordes euren Her-
zen auferlegt? Es widerspricht nicht dem rein seelischen, erlebnishaften

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