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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1922)
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Müller-Würdenhain, Karl ...: Die Sehnsucht nach der Volkskirche, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0261

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müssen wir zugeben, rührt an ein Unglück unser aller, nämlich daß uns als
Volk die Zusammenfassung unserer Geistigkeit fehlt, das Or--
gan, durch das diese sich auswirke. Wir müssen einer Volksgemeinschaft zu
ihrer Vollendung dasjenige wünschen, was die Landeskirchen zu sein bean--
spruchen, ohne es zu sein. Wir wünschen unserem Volke, also uns selber
mit, ein Organ, in welchem es seine besten und tiefsten Strebungen und
zukunfthaltigen Geistkräfte und Willensmächte wachstümlich versichtbart,
verwirklichend, gestaltend, schaffend zusammengefaßt sieht, „Wort" dessen,
was wortlos in ihm der Zukunft zudrängt. Wo dies wäre, wäre im eigent--
lichen Sinne Volkskirche.

Im innern Willen zur Volkskirche also wissen wir uns mit den Landes--
kirchen einig. Die Frage ist, ob sie die Voraussetzungen erfüllen, die
allein den Anspruch berechtigen würden, diese Volkskirche vorzustellen.

Der Grund, weshalb dem Gegenwartsmenschen die Kirche zurückzubleiben
scheint hinter den Anforderungen, die an eine Volkskirche zu stellen sind,
ist der: Die heutige Kirche ist fertig und will fertig sein. Sie
will nicht Welle sein des fließenden Lebens, sondern sie will Schema sein,
in das das Volksleben und -denken sich zu fügen und an das es sich zu
halten habe. Sie will nicht die neue Form suchen für die gegenwärtig
nach Ausdruck drängende Geistwirklichkeit, sondern sie will festgebaute und
fertig eingcrichtete Wohnung sein, in der die Menschen der Zeit als After--
mieter sich vorsichtig zu bewegen haben. Die Kirche will Christus „haben",
aber den firierten, den erstarrten, nicht den lebendigen, der jetzt hundert--
gestaltig aus der Tiefe zur Oberfläche drängt. Darum erkennt sie nicht,
daß unter den Erschütterungen des Bodens, auf dem wir stehen, der
Lebendige ist, der, wo man sein Klopfen überhört, mit dem Hammer schlagen
wird. Darum kann die Landeskirche nicht Volkskirche sein.

Es sei erlaubt, diese Sätze an zwei Seiten unserer Geistigkeit und ihrer
Bewegung zu messen und zu bewähren. Dabei wird am klarsten das
heraustreten, was von den geistigen Bestimmtheiten einer Volkskirche zu
fordern sein wird.

l. Die Kirche und die Denkformen

Mindestens seit Kant steht die Metaphysik in beständiger Krisis. Die
Bewegung hier ist insofern von Wichtigkeit für jede „Kirche", als jede
„Kirche" ihre religiösen Inhalte, das Ineinander von All und Ich, in den
Worten irgendeiner Metaphysik auszudrücken und so mit der jeweiligen
Geistigkeit zu verknüpfen bestrebt ist. An dem Schicksal der allgemeinen
Metaphysik muß also die kirchliche teilnehmen.

Anser Denken bewegt sich zurzeit von der jenseitigen „Metaphysik" weg
zur innerlicheu Metaphysik; es ist daran, das Schema Ienseits-diesseits,
wie auch das Schema „Ich-Nichtich" aufzulöseu. Diese Ausdrucksfiguren
werden als das erkannt, was sie sind: nicht Beschreibungen einer objek-
tiven Wirklichksit, sondern Gleichnisse für grundlegende Bestimmtheiteu
und Widerfahruisse der menschlichen Geistbewegung. Dadurch werden jene
Begriffe aus ihrer scholastischeu Verhärtung befreit, mit der sie objektiv
bindend sein sollten, sie gewinnen neuen Wert als notwendig uneigentliche
und dennoch unvermeidliche Darstellungsversuche und Gefäße für innere
Lebenswirklichkeiten und für unbedingte Gehaltenheiten unseres Geistes,
unserer geheimnisvollen letzten Lebenswirklichkeit. Das Denken findet von
den Gedankenbauten zurück zu dem Körnchen hciligen Geheimnisses, über
dem und zu dessen Ehre sie aufgeführt sind; von den „Fähnlein über dem

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