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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 4 (Januarheft 1922)
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Müller-Würdenhain, Karl ...: Die Sehnsucht nach der Volkskirche, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0264

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sie nicht aufeinandergefügt werden können. Selbst für den Fall, daf;
restlose geschichtliche Gewißheit durch die Leben-Iesu-Forschung erreichbar
wäre, war das linglück nicht kleiner. Denn dann wnrde der Laie historischen
Gebietes von der Gewißheit aus erster tzand ausgeschlossen, somit von der
quellenden Rninittelbarkeit. Denn die Tragfähigkeit des Beweises konnte
unmittelbar nur dem Historiker einleuchten; wer als Historiker Laie war,
mußte sich, was die Grundlegung der religiösen Gewißheit anging, auf
diesen verlassen. Der Historiker wurde im eminenten Sinne der „Priester"
der anderen. Damit war gegen den Herzpunkt aller Religion verstoßen,
gegen das innerste Lebensbedürfnis der Menschen, das kaum erst mühselig
seiner selbst klar gewordeu war: gegen die Anmittelbarkeit, nach der die
Menschheitsbewegung der Iahrhunderte ringt. Das Religiöse vermag
nur vom Aumittelbaren zu leben und ringt unablässig um es.* Nun mußte
die Religion der zur „zweiten Hand" nur noch Gelangenden verkümmern,
wie die Blume im dunklen Zimmer, das der Sonnenstrahl nicht unmittel-
bar trifft. Hier tritt ein Grund ans Licht für die sinkende religiöse
Lebendigkeit des Bürgertums, soweit es unbewußt mit der Kirche mitgeht,
für die Lntfremdung der Geistigen und der Arbeiterschaft gegen die
kirchliche Darbietung. Die Strahlen des „Angeheuren" konnten, an kirch-
lichem System abgefangen durch den Filter der historischen Biudung, nicht
das verborgene Leben ihnen selber zuwenden, ja kaum noch es überhaupt
wecken. Dem modernen Menschen mußte es unmöglich sein, sich in dem
verlangten historischen Schema religiös zu beziehen, eine Zumutung, die
für seine geistige Lage ein Widerspruch in sich selbst ist.

Aus dieser geistigen Lage ergibt sich die Forderung: Befreiung der
Religion aus der Vergeschichtlichung. Wiedereinsetzung des Nnmittelbaren
in sein Recht. Es ist seiner Natur nach überzeitlich wirklich und wirk-
sam und lacht der Ängstlichkeit, die ihm ein geschichtliches Steinchen
unterlegen will, damit es wenigstens auf einem Bein stehe. Diese Be°
freiung entspricht auch der Art, wie im Grunde stets die Iesustatsache
wirkte; nicht weil sie Geschichte war, sondern weil sie das Nngeheure war,
nicht weil sie das damals Wirkliche, sondern weil sie das jetzt Wirkliche
ausspricht, das in dir deines Mutes harrt, der sich der verborgeuen Nn°
scheinbarkeit des Ungeheuren annehme. Zu aller Zeit flog die Sehnsucht
nicht der dinglichen Tatsächlichkeit, sondern der gsistigen Wirklichkeit zu,
Solche Befreiung bedeutet keine Entgeschichtlichung des Unmittelbaren.
Geschichtslosigkeit ist nichts menschliches Vollkommenes. Wir sind als
Gesellschaftswesen nicht umsonst in die Geschichte geflochten. Sondern es
gilt das Eindringen durch den Mantel der Geschichte in ihr Herz. Das
allein führt zu unmittelbarer Gewißheit. Denn mag die vermeintliche
historische Tatsächlichkeit unsicher schimmern und wehen und unfaßbar vor
dem festen Grifse zurückweichen, wie der Nebel des Mythos, so bleibt doch
jene Geistwirklichkeit, aus der der Nebel entstieg als Sehnsucht ihrer
selbst; so bleibt die Farbe und Gestalt der traumhaften Bilder als Zeugnis
der Geistigkeit, die stammelnd in ihnen sich ausspricht. Es bleibt das er-
greifende Kunstwerk, das das innerste verschüttete Menschentum in solchem
Lrlöserbilde sich schuf und das sie mit dem genialen Wurfe des Erschauens
in die Sterne heftete, um im Alltagsstaub sich selber nicht zu vergessen; es
bleibt die Schauung des endlichen Zieles, das aus der dürren Luft der

*) Ansätze zur Erkenntnis dieses Mitzgriffes bei Martin Kähler-Halle (tz) nnd
S. Weber-Bonn.
 
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