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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 4 (Januarheft 1922)
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Troeltsch, Ernst: Die Amerikanisierung Deutschlands: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0283

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Landabrüstung ist für die Amerikaner mehr eine moralische Forderung.
Wenu die Franzosen nicht wollen, so ist den Europäern nicht zu helfen,
nnd man muß warten, bis sie wieder vernünftig werden. Nur allzustarke
sinanzielle Störungen, die aus dem europäischen Chaos zu cntspringen
drohen, wird man zu verhindern wissen. Von Deutschland ist nur in der
letzteren Hinsicht, nicht in politischer die Rede. Ihm gegenüber fühlt man
sich durch das Schulddogma, das immer noch sür seine ganze Lage ent-
scheidend ist, moralisch gedeckt und durch den Antergang der deutschen Flotte
und Landmacht, von denen die erste nie wieder hergestellt werden kann,
politisch desinteressiert. Die Seemächte sind entscheidend, und ihre Konflikte
gilt es zu verhindern oder zu verschieben, jedenfalls jedem etwa möglichen
neuen Weltkrieg von vornherein zuungunsten Iapans zu präjudizieren.

And was hat England in dieser schwierigen Lage getan? Es war bisher
durch die ungeheüre französische Landmacht und Unterseeboote bedroht. Es
war vielfach in ähnlicher Lage wie Deutschland vor einigen Iahren, nur
bewegte sich alles in größeren Dimensionen. Es befand sich Frankreich, gegeir-
über in der Lage wie Deutschland gegenüber Italien, Als dieses . seine
„Extratour" tanzte, d. h. das Bündnis mit Deutschland tatsächlich aufgab;
Amerika gegenüber wie einst Deutschland gegenüber England nnd Ruß--
känd, als jenes den festen Flottenstandard anbot und dieses die tzaager Kon-
ferenz berief. Es ist lehrreich, wie Lngland in dieser Lage gehandelt hat.
Es hat die Humanitäre Parole mit bereitwilligem Enthusiasmus übernom-
men nnd die damit ermöglichte finanzielle Erleichterung gerne akzeptiert.
Das heißt aber: es hat in Wahrheit auf seine alleinige Seeherrschaft, die
bis vor kurzem als Lebensbedingung Englands galt und die man mit guten
Gründen aüs dem Begriffe die Seeherrschaft als notwendig alleinige kon-
struierte, verzichtet; zweifellos ein ernster nnd bedeutender Entschluß. Man
hat allem Anschein nach vor Lröffnung der Konferenz alles das in Der-
handlungen mit Amerika erledigt und sich zuvor — unter Zuziehung Hol-
lands, des dritten großen Slbesitzers — über die Berteilung der Slfelder
der Erde geeinigt. Das Sl ist heute wichtiger noch als Lisen. Es ermöglicht
für Flottenstaaten Schiffsleistungen mit einem Aktionsradius, wie er bei
Kohlenfeuerung nicht möglich ist. Seestaaten, die genügend Sl haben, sind
zu deu höchsten Leistungen der Schiffstechnik befähigt und allen anderen
überlegen. Nachdem man sich über diesen wichtigsten Punkt beruhigt und
gesichert hatte, konnte das große Experiment der Preisgebung der abso-
luten Seeherrschaft, die doch verloren war und beim Wettrüsten verloren
gehen mußte, auch vorerst grundsätzlich gewagt werden. England hat ferner
die französischen Extratouren als das bewertet, was sie in Wahrheit sind,
als eine Bedrohung Englands und als eine faktische Auflösung der Entente.
Es hat daher schleunigst für Ersatz gesorgt und an Stelle der brüchig gewor-
denen englisch-französischen eine amerikanisch-englische Entente gesetzt, bei
der es durch Gewinn an angelsächsischer Kulturhegemonie und Prestige-
steigerung die staatlich-politische Einbuße für das Gefühl seiner Völker ver-
decken konnte. Bündnisse sind seit dem Versagen des mitteleuropäischen Bünd-
nissev unmodern geworden; man bedarf nur mehr der loseren Ententen, die
sich im Weltkriege so vortrefflich bewährt haben. Lngland hat weiterhin nicht
„Nibelungentreue" nm jeden Preis gehalten — das Wort stammt von dem-
selbeu geistreichen Kanzler, von dem die „Extratour" stammt und der über-
haupt in Worten glücklicher war als in Taten —; es hat vielmehr das
gegenstandslos gewordene Bündnis mit Iapan aufgelöst; natürlich in den
 
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