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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1922)
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Spranger, Eduard: Eros
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Der Weltangstschrei
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0348

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steigend, dann wie in fruchtloser Anstrengung nachlassend und in Resig-
nation verhallend, endlich verstummend, und so ergreifend für mensch-
liches Gefühl, daß den beiden Wanderern unendlich wehe ums Herz ward.

„Hast du den Schrei gehört?" fragte der eine den andern.

„Ich habe ihu gehört- es war bereits zum zweiten Male."

„Den ersten habe ich auch vernommeu; anfangs glaubte ich, daß ich
mich täusche, es ist aber wirklich so: es wurde geschrien!"

„Welche Angst, welcher Schmerz war das! Es schuürt mir das Herz
zusammen; was mag das gewesen sein? Was für ein Schrei war das?
Ist das ein Hilferuf? Soll das ein Mensch gewesen sein?"

„Das kann nicht der Schrei eines Menschen sein," erwiderte der andere,
„es klingt menschlich, stammt aber von keinem Menschen; der hat nicht
diese Gewalt in sich."

„Dann wird es ein Tierschrei gewesen sein?"

„Es war auch kein Tierschrei! Ich kenne alle größeren Tiere, die hier-
zulande leben, kein Tier hat eine solche Stimme."

Sie schwiegen hierauf wieder, und gingen in tiefer Erschütterung neben-
einander her.

Nach einer Weile begann der eine wieder: „Was meinst du, von
welcher Richtung kam es her?" und in diesem Augenblick erhob sich wieder
ein langgezogener Schmerzensschrei, der beide Männer zum Stehen brachte.

„Das kam aus der Tiefe der Erde," setzte der eine fort, „ich habe genau
auf die Richtung geachtet."

„Ich auch," sagte der andere, „aber ich glaube, es kam vom Firmament
herab, von jenseits der Wolken her."

„Wenn du glaubst, es käme vom Himmel herab, und ich, es käme aus
der Erde herauf, so ist, ich schaudere, es zu sagen, vielleicht beides wahr!"

„Denkst du nicht an alte Sagen?" begann dann wieder der eine.

„Welche Sage soll uns da helfen?"

„Die alten Deutschen meinten, Wotan schwebe des Nachts als Hoymann
über den Baumwipfeln, reite auf weißem Roß, und jage mit dem Nacht-
geschrei durch die Lande."

„Was soll uns Wotan!" erwiderte der andere, und nach einer Pause:
„Aber — sie hätten doch Wotan nicht des Nachts jagen und schreien lassen,
wenn sie nicht, wie jetzt wir, irgend etwas Furchtbares gehört HLtten. . .
Äbrigens: Iägerruf hat diesen Ausdruck nicht; was wir hörten, kann von
keinem Iäger stammen; ein Iäger ist ein Mörder, der Schrei von
vorhin jedoch war nicht der eines Mörders, eher der eines Ermordeten."

„Ich gebe dir recht", versetzte der andere, und sie schritten wieder
schweigend weiter.

„Wenn das wahr sein könnte, was ich jetzt denke," begann der letztere
bald darauf, „so verstünde ich den Schrei; dann kann er wirklich der Angst-
schrei eines Ermordeten sein. Glaubst du nicht: der letzte Schrei Iesu
am Kreuze könne durch die Iahrhunderte dauern? And durch die ganze
Ewigkeit fort? Im Tageslärm ungehört, in stiller Nacht vernehmbar!
Haben wir etwa den Wehruf vom Kreuze her vernommen?"

„Nein!" erwiderte der andere, dessen Phantasie nicht minder als die
seines Freundes zu delirieren begann. „Der Wehruf Iesu war gewiß nur
in nächster Nähe des Kreuzes, wo man ihn als Menschen sah, ein Angst--
schrei. Ie weiter weg in Ranm und Zeit, desto mehr wurde er zum
herrlichsten Gesang; das trostreichste, das erhabenste Licd, der Sphären

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