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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1922)
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Troeltsch, Ernst: See- und Landmächte: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0421

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sächsische Politik, die nur von den Gesichtspunkten der Seemächte und
der überall Autonomie und damit Befriedigung schaffenden Weltdemokratie
ausgeht, wobei sie die Rolle der Weltpolizei spielt. In diesem Umstande
ist auch das tiefe Recht eines europäischen Kontinentalprogramms begründet,
das durch Verständigung der Kontinentalmächte allein dieses äußerst schwere
Problem lösen könnte. Die notwendig militärisch stärker organisierten
Landmächte können aus demselben Grunde auch nicht Demokratien von
reinem westlichen Stil sein. Der theoretische Antimilitarismus ist gleich-
falls ein Produkt des Denkens und des Interesses der Seemächte. Aber
wie sollen diese Schwierigkeiten gelöst werden, solange Frankreich nur
von der Vernichtung Deutschlands leben zu können meint; solange der
russische Bolschewismus jeden Verlaß auf irgendeine russische Politik un-
möglich macht und solange die deutsche Intelligeuz uur von Wiederher-
stellung des Alten träumt! Hier liegen die eigentlichen Probleme, deren
Lösung auf die Dauer Leben oder Tod bedeutet und denen gegenüber
alle jetzigen Unternehmungen nur ein Fortwursteln bis zu der irgeud einmal
nötigen Lntscheidung und Klärung bedeuten. Freilich in einem rich-
tigen, das Mögliche erreichenden ^Fortwursteln" liegt jetzt unsere ein-
zige vorläufige Rettung. Die Politik des Kabinetts Wirth ist eine solche
Politik, und darum bedürfte sie der allgemeiusten Rnterstützung. Wir
können nichts anderes und müßten das Einzige, was wir können, auch
wollen.

Den eigentlichten Lichtpunkt in unserer Lage bildet unsere Volksmasse, die
doch schwerlich auch nur derzeit wie die russische zu vernichten ist, und unsere
technisch-industrielle Tüchtigkeit. Die Leistungen und der Mut der Industrie
sind stets von neuem überraschend, ihr tzochgefühl daher auch sehr begreiflich.
Sie ist mit ihren Erfindungen, Anpassungen und Neubildungen der wesent-
liche Aktivposten. So wurde mir neulich erzählt, daß die Industrie im Begriff
ist, von den Schwermetallen im weitesten Umfang zu den Leichtmetallen
überzugehen, d. h. zu Aluminiumverbindungen. Aluminium wird aus
Tonerde gewonnen und ist bei uns überall in beliebiger Menge zu er-
zeugen. Die bayerischen Walchenseekraftwerke haben demgemäß auch so-
fort ein großes Aluminiumwerk angelegt. Auf der anderen Seite versucht
man soviel wie möglich aus der Luft zu gewinnen, die es ja auch überall
gibt und die niemand annektieren kann. Die Stickstoffgewinnung ist be°
kannt. Ietzt höre ich, daß man Motoren mit Preßluft statt mit Benzin
und öl zu konstruieren beginnt. Das Schönste aber ist der Mut und die
Zuversicht, die in alledem steckt. Da faßt man wieder Hoffnung. Es kommt
nur darauf an, daß solche Schaffenskraft sich mit einer ethischen Lrneuerung
verbindet und der Geist der Technik in einem antimaterialistischen Sinne ge-
pflegt wird. Eine derartige Verbindung würde mir als das hoffnungsvollste
Zukunftszeichen erscheinen.

Noch von anderen Wahrnehmungen möchte ich bei dieser Gelegenheit
berichten. Alle Berichterstatter aus dem näheren und ferneren Orient
sind einig darüber, von ungeheueren geistigen und technischen Verände-
rungen auf diesen Gebieten zu berichten. Das Studium der europäischen
Naturwissenschaften habe in Indien einen Aufschwung genommen wie in
Iapan. Indische Studenten strömen massenhaft nach Deutschland, nach-
dem ihnen die Landung in Amerika versagt worden ist; angeblich bestehe
in dieser Hinsicht ein geheimes Abkommen zwischen England und Amerika.
Das würde auf schwere Erschütterungen der europäischen Rassenhegemonie
 
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