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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1922)
DOI Artikel:
Bekker, Paul: Die zwei Wege der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0092

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in der Vereinigung von organischer Selbständigkeit der Einzelstimme mit
strenger Gebnndenheit des Ganzen. An dieser zusammenfassenden Kraft,
an dieser Fähigkeit, die reichste Mannigfaltigkeit linearer Sonderbewegung
in einen großen Totalkomplex zu vereinen, bewährt sich die polyphone
Kunst des Meisters. Was er schafft, ist entstanden aus der Vorstellung
der Gesamtheitswirkung, ist bestimmt, ohne Verlnst seiner Eigenheit sich
zu überindividueller Erscheinung zusammenzuschließen. Der Anterschied
der stimmlichen Einzelwesen ist lediglich Anterschied der Lage, des Klanges,
der Bewegungsschnelligkeit; dem Charakter nach sind alle gleich, gehören
alle der gleichen Gefühldimension an, sind sie Linien, die sich nach dem
Gesetz des Bewegungsimpulses ineinanderschlingen, schneiden, zum Ornament
formen, ohne je die reale Sinnlichkeit der Linie, die Festigkeit des indivi-
duellen Seins zu verlieren. Als Sprachmittel ist die Orgel mit der reich-
gegliederten und doch im Charakter gleichartigen Fülle ihrer Klang-
schichtungen das typische instrumentale, der vielstimmige Chor mit seinen
artverwandten Stimmindividuen das vokale Ausdruckselement der Poly-
phonie.

Die homophone Kunst, die schon zu Bachs Zeit und dann immer mäch-
tiger empordrängt, hebt die Gebundenheit der Vielheit, hebt die Wirkung
durch Zusammenwachsen der Organismen zur überindividuellen Erschei-
nung auf. Alle Kraft, aller Wille, alles Leben konzentriert sich jetzt auf
eine Einzelstimme, die Führung nimmt, das Typenhafte abstreift und
subjektive Bestimmtheit erhält. Die Flächenhaftigkeit der nebeneinander-
gelagerten Linien verschwindet, da nur noch eine dominiert. Anter ihr aber
bildet sich ein magischer Raum, nicht mehr sinnlich-gegenständlich erkenn-
bar, wie die ornamental-konstruktive Formbildung der Polyphonie, eine
neue Dimension der Tiefe, gewonnen durch Schichtung geheimnisvoll-
beziehungsreicher Tonstufen: die Harmonie. Die mit jedem Ton gleich-
zeitig erklingenden Obertöne werden als seine Ergänzung empfunden und
festgehalten; diese vertikale Tonreihe gibt jetzt der gestaltenden Phantasie
entscheidende Anregung. Der Klang gliedert sich in Hauptton und Neben-
töne, jener als Leitpunkt der Melodie, diese als begleitender harmonischer
Antergrund. An Stelle des geometrisch-flächigen tritt das akustisch-räum-
liche Tonsystem, an Stelle der Linienbewegung die durch Wechsel der
Tiefenbewegung wirkende Harmonie. Mit dieser Veränderung der Ton-
vorstellung zugleich vollzieht sich eine entsprechende Amgestaltung des
Klangempfindens. Der Anterschied von melodischem Hauptton und har-
monischen Begleittönen bedingt auch ein anderes System der Klang-
gruppierung. Der farbige Reiz des Klanges kommt zu selbständiger Gel-
tung. Gegenüber dem Streben nach Zusammenfassung möglichst gleich-
artiger Charaktere in der polyphonen Musik herrscht jetzt der Drang nach
Gleichzeitigkeit heterogener Klangelemente, deren verschiedenartig abge-
stuste Lichtwirkungen die Vorstellung des räumlichen Äbereinander steigern.
In gleichem Maße und aus gleichem Bedürfnis erhält die bis dahin vor-
wiegend auf einfache, primitive Kontraste gestellte Dynamik lebendig be-
wegte Durchbildung. Das Orchester, diese Vielheit des Angleichartigen,
wird das wichtigste Instrument der melodisch-homophonen Kunst; soweit
andere Sprachmittel herangezogen werden, geschieht es stets unter Mischung
verschiedenartiger Klangcharaktere. Im Streichquartett, der reinsten Klang-
einheit der homophonen Kunst, ist zunächst die dominierende Stellung der
Oberstimme, die begleitende, lediglich harmonisch füllende Funktion der

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