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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1922)
DOI Artikel:
Bekker, Paul: Die zwei Wege der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0093

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übrigen selbstverständlich und wird erst in den späteren Quartetten Beet--
hovens zu gesteigerter Subjektivierung und klanglicher Gegensätzlichkeit
der Einzelstimmen umgewandelt.

Den Anfang dieser großen, mit dsn tiefsten Regungen der zeitlichen
Geistesgeschichte unmittelbar verbundeneu Umwälzung bildet das General--
baß-Zeitalter, so genaunt nach der Gewohnheit, nur die melodische Linie
und die Baßstimme aufzuzeichnen, während die erforderlichen harmo-
nischen Füllstimmen durch Zisfern augedeutet und bei der Auffühxung
improvisatorisch hinzugesetzt wurdeu. Man kann diese Methode, deren naive
Praxis deutlich die Anterscheidung zwischen Wichtigem und minder Wich-
tigem spiegelt, gewissermaßen als Beginn der musikalischen Aufklärung
bezeichnen. Zeitlich ist sie schon vor Bach vorhanden, wird auch von ihm
selbst verwendet, erlangt aber vorherrschende Bedeutung erst mit dem end-
gültigen Durchbruch des homophonen Stiles, als Vorbereitung und Äber-
gang zur Gewinnung der harmonischen Vorstellungsart. Diese ist das
eigentliche Ausdrucksgebiet der Zeit des klassischen Idealismus. Hier hat
die melodische Oberstimme unumschränkte Freiheit, reichste Bewegungs-
kraft, vollendeten Persönlichkeitswert gewonnen. Keiue Gebundenheit mehr,
keine vorbewußte Bezugnahme aus ein überiudividuelles Ganzes ist vor-
handen; die typenhafte Eiuzelformung hat sich zu schärfster Subjektivie-
rung gesteigert. Es herrscht die Melodie, als unmittelbare Spiegelung
des Persönlichkeitsbewußtseins, periodisch umgrenzt, physioguomisch von
Lußerster Bestimmtheit des Schnittes. Diese Melodie ist empfangen aus dem
Vorgefühl dertzarmonie. Die innere Bewegung der tzarmonie, ihr gesetz-
mäßiger Ablauf gibt die inneren Richtpunkte für die Melodie, ähnlich und
doch ganz anders als in der Polyphonie die konstruktive Idee der Gesamt-
form den Wuchs des thematischen Gedankens beeinflußte. Dieser thematische
Gedanke der polyphonen Musik war bei allem Eigenwerk ein Partialgedanke;
die Melodie dagegen, namentlich der frühklassischen Zeit bis zu Mozart, ist
in sich geschlossen, fertig, ein lebendiges, organisch gegliedertes, selbständiges
Wesen. So offenkundig ihre Gestaltung aus der Einbeziehung des Har-
moniegefühles mitbedingt ist, so zweifellos ist doch der eigentlich bestim-
mende Zug des rein melodischen Impulses, die Unterordnung der Har-
monie vorzugsweise zur Stützung und Bekräftigung der melodischen Er-
scheinuug.

Melodie im Sinne der großen klassischen Kunst, wie sie am reinsten
bei Mozart, vorbereitend bei Haydn, abschließend bei Beethoven und
Schubert erklingt, ist das musikalische Symbol der freien Persönlichkeit,
die künstlerische Formung höheren Individualitätsbewußtseins. Man kaun
die Gesetze ihres Baues durchforschen, man kann sie stilistisch kopieren.
Aber keins noch so starke melodische Erfindungsgabe einer späteren Zeit
kann ihre Wirkung annähernd erreichen, weil ihr Geheimnis nicht in
spezifisch musikalischen Gesetzen liegt, sondern in der Gewalt des Ethos,
dem sie entsprungeu ist. Dieses Ethos zwang die Harmonie zur Dienst-
barkeit gegenüber der melodischen Individualität. Sie blieb Trägerin der
Kraft, sie durchdrang in der Hochblüte der klassischen Kunst den harmonischeu
Rnterbau bis in die feinsten Verästelungen, so daß in den späteren Quar-
tetten Beethovens die harmonische Fügung der Stimmen durch freieste melo-
dische Auflockerung fast bis zur Polyphonie gesteigert wird, ja teilweise zu
deren Formenbau zurückkehrt: in Mozarts Iupiter-Sinfonie, „Zauber-
flöte"-Ouvertüre, Beethovens Ouvertüre „Weihe des Hauses", im Finale
 
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