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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1922)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Wieder bei der Reparationskommission: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0273

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nötig war, mit Polen und Franzosen, für das eigene Interesse, Dinge, die
so wohl nur in Deutschland möglich sind. Trotzdem hat die deutsche Kom--
mission ein großes Werk aufgebaut, das erste internationale Dokument, das
ganz auf den iGedanken des Minoritätenschutzes abgestellt ist und daher
in erster Linie die kulturelle und geistige, religiös-kirchliche und schulpolitische
Autonomie sichert. Auch die evangelische Kirche ist hier zum ersten Male als
eine Größe des internationalen Rechtes anerkannt und behandelt, die erste
wichtige und internationale Konsequenz der Entstaatlichung, Lie vielleicht
von nicht ganz geringer Tragweite auch für andere Dinge sein wird, wenn
die evangelischen Kirchen davon Notiz nehmen und daraus Folgerungen
ziehen wollen, statt nur den Nutzen einer gewaltsamen Restauration der
Orthodoxie daraus ziehen zu wollen und im übrigen sich nach den Fleisch-
töpfen der ägyptischen Knechtschaft zurückzusehnen. Auch nach der wirtschafh-
lichen und finanziellen Seite hat 'der Vertrag manchen Erfolg zu verzeichnen,
wie das so ziemlich allgemein in den sachkundigen Kreisen anerkannt wird.
Nicht ohne Würde und ohne eine gewisse Kühnheit hat der Führer der deut-
schen Berhandlungskommission in Genf, tzerr Schiffer, das Ganze als das
Ende einer Tragödie bezeichnet. Das Ansehen, das die Kommission durch
ihre Arbeit sich erworben hat, machte eine derartige Kundgebung deutschen
Würdegefühls im Nnglück möglich. Die Deutschen hatten der Welt das
Muster eines internationalen Vertrags zum Minoritätenschutz gezeigt und
bis zu einem gewissen Grade Glück im Änglück gehabt.

Aber wie war nun die Behandlung des Vertrags in Deutschland selbst?
Da zeigt sich wieder das ganze Elend der demagogischen Verhetzung und
Vergiftung und die ganze, heute gegen früher noch enorm gesteigerte Dishar-
monie der Nmter und Bürokratien. Obwohl man den relativ günstigen
Erfolg des Vertrags anerkannte und obwohl sich der Reichstag der
Rechtsverwahrung des Herrn Schiffer anschloß, stimmten Deutsche Volks-
partei und Deutsch-Nationale gegen den Vertrag! Als in der Kommissions-
sitzung die Regierung der deutschen Delegation für ihre Arbeit dankte, da
rief einer der Unterkommissare dazwischen: „Es ist auch das Werk der alten
Beamten! „Der Vertrag macht die Einrichtung von etwa 20 bis 25 neuen
Behörden notwendig, die das Auswärtige Amt ernennen muß. Als man
an dieses Amt mit der Aufforderung zur Einrichtung herantrat, erklärte der
zunächst davon betroffene Beamte, er kenne den Vertrag noch nicht und
könne daher nichts verfügen; man habe aus kleinlicher Sparsamkeit niemand
von dem Amt nach Genf mitgenommen und da sei das Auswärtige Amt ohne
Kenntnis der Sachlage, obwohl es täglich genau unterrichtet wurde und die
Druckbogen des Vertrags längst erhalten hatte! Als die Beschlußfassung des
Reichstags in Gestalt einer feierlichen Trauerkundgebung erfolgen und alle
Teilnehmer in Schwarz erscheinen sollten, erschien der schon genannte Nnter-
kommissar in heller Sommerkleidung, um gegen „dieses System" zu vrote-
stieren. So kindisch werden die wichtigsten Angelegenheiten bei uns von den
zu den wichtigsten Entscheidungen Berufenen und vom Volke Bezahlten
behandelt. Die ganze Maschine ist krank und arbeitet nur mit den fnrcht-
barsten Reibungen, die sich von oben bis in jeden kleinsten Kreis, Verein
ünd sogar in die Familie hinein fortsetzen. Deutschvölkische und jüdische,
heroische und kommerzielle, nationale und internationale, militärische und
ideologische, sozialistische und bürgerliche Weltanschauung nennt man dabei
die Gegensätze und donnert sie mit allem möglichen moralischen Iournalismus
auf, obwohl im Gninde und zumeist kjüben und Drüben Klassen- und Stan-

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