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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

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Heft 12 (Septemberheft 1922)
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Schumann, Wolfgang: Geschlechtstrieb: dritter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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Bonus, Arthur: "Staatbildende Kraft"?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0387

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allein ist und noch weniger Gegenstand einer Moral der Entrüstung, des
Verhüllens und Verleugnens. Es ist Leben, das leben will und muß.
Sowenig jemand aus irgendwelchen Motiven es unterläßt, sprechen zu
lernen, die Welt anzuschauen, zu denken, zu atmen, so wenig wird es ge-
lingen, das Leben glauben zu machen, es solle sich nicht auch geschlechtlich
entfalten. Aus solcher Anerkenntnis wird Erkenntnis erwachsen und aus
ihr eine Reihe von Regeln und biegsamen Sitten, nach denen sich die Funk-
tionen in uns und die Handlungen nach außen hin ordnen mögen. So
allein kann der Albdruck aus dem Gesellschaftlichen schwinden, der heute
vom mißhandelten Trieb ausgeht, so allein die Häßlichkeit und Verküm-
merung, Roheit und schreiende Geilheit im Angesicht der Zeit. „Negeln",
so sagte ich nicht ohne Bedacht. Denn was gefordert ist, ist bei weitem
nicht die schwerschreitende Pathetik ethischer „Gesetze"; nur eine von vorn-
herein irrende Geistigkeit konnte das Monstrum einer besonderen „Sexual-
ethik" schaffen, als ob Geschlechtstrieb und Geschlechtsleben dem Göttlichen
zuwiderer wären als andere Triebe. Das ist nicht wahr,- unser Leben be-
darf der Entfaltung und der Beseelung schlechthin; die Entfaltung bedarf
der Regel, die Beseelung täglichen, gläubigen Willens; von selbst aber
weicht der Trieb zurück, wenn der Bezirk letzter Versittlichung unseres
Wesens betreten ist, und im Stande echter Verwesentlichung blickt die
Seele, die nicht begehrt, zurück auf den Trieb mit dem güttgen Lächeln, mit
dem erwachsene Kinder das geschäftige, doch nicht mehr entscheidende Tretben
ergreister Eltern betrachten. Wolfgang Schumann

„Staatbildende Kraft^?

^^-^^erden wir die staatsbildende Kraft aufbringen? — Von Natur liegt
H ^sie nicht im deutschen Volke; das haben Iahrhunderte gelehrt.

^ 'Wir müssen uns mit allen geistigen Mitteln dazu emporschwingen."

So Eduard Spranger.

Ist das richtig? Die angedeuteten Tatsachen bestehen zu Recht und
scheinen sich neu bewahrheiten zu wollen. Aber es ist doch wohl die Frage,
ob sie einen Mangel an staatsbildender Kraft bedeuten oder andere Rr-
sachen haben.

Alexander Bugge in seinem Buche über „Die Wikinger" (deutsch Halle
(906) behandelt unter anderm die verschiedenen Wikingerstaaten unter Kelten.
Äberall hätten die Kelten den Nordleuten reichere, phantasievollere Kultur
gegeben — wie das Lied, das dem alten Norden fremd war, auf keltische
Vermittlung aus der Antike zurückgehe —, aber die Nordleute ihrerseits
lehrten sie staatliches Leben, Städte bauen, mit Wall und Graben umgeben,
große seetüchtige Segelschiffe rüsten, Handel treiben, Münzen prägen und
in Städten leben, sowie der Städtebewohner Hantierungen und Geschäfte
betreiben.

An einer anderen Stelle sagt Bugge: „Gründung einer freien selbstregie-
renden Gemeinschaft, die das ganze Volk an der Verwaltung teilhaben
läßt, das ist der große Einsatz der Germanen in die Geschichte, das, was
sie vor Griechen und Römern voraushaben, die politisch nie über die Stadt-
gemeinschaft (polis, urbs) hinausgelangt sind."

In der Tat sind denn auch sast alle abendländischen Staaten in ihren
Anfängen germanische Gründungen. Blicken wir auf die großen germani-
schen Völkerwanderungen, die frühe südliche, an welche durch ihre Namen

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