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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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2. Heft
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Anwand, Oskar: Hans Meid
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Ertel, Jean Paul: Das "absolute Gehör"
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0062

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MODERNE KUNST.


temperamentvolle Vorstöße, denen die letzte künstlerische Lösung fehlt. Im nächsten Jahre
hat Meid in der Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes in Hamburg einige Radie-
rungen ausgestellt, auf die hin er den Villa-Romana-Preis erhielt. Während diesesjahres ent-
stand in Florenz der Othello-Zyklus, und noch als der Künstler an ihm arbeitete, tauchte
die Don-Juan-Folge in seinem Gesichtskreis auf, um 1912 vollendet zu werden. Seine
Radierungswerke drängen sich also auf die kurze Zeit der letzten drei Jahre zusammen.
Es ist nicht schwer, Meids Kunst zu charakterisieren, um so mehr als man ver-
wandte Temperamente von Klassikern zum Vergleich heranziehen kann. Er liebt die
Kraft, Fülle, den Schwung der Leidenschaft und den Reichtum der Natur und des
Lebens: Architektur von Laubfülle überrankt, hell erleuchtete Prunksäle, kräftig elastische
Männerkörper und üppige Frauenleiber. So könnte man bei den satirartigen Liebes-
szenen an Rubens denken, an dessen Münchener Gemälde eines Faunes, der eine
Nymphe verführt, die Beinstellung im «Nachtstück" einigermaßen erinnert. In der
Tat; die Freude an der Leidenschaft, am Rausch und der Sinnenlust des Daseins sind
die gleichen. Aber Rubens gibt die Wirklichkeit beim hellen Tagesscheine mit klaren
Farben, während Meids Welt aus Romantik, Vision und Traum geboren scheint, und
er die Nacht mit ihren künstlichen Lichtern und dunklen Schatten bevorzugt. Wenn
er selbst über Szenen, die sich gleich dem «Ausziehende Reiterei" oder dem Baden
der Nymphen am Tage ab-
spielen, ein eigenartiges Licht
ausgießt, so könnte man etwa
an Rembrandts „Nachtwache“
denken, die ja einer ähnlichen
romantischen Neigung ihres
Künstlers ihren (falschen) Na-
men verdankt. Daß Meid
Rembrandt als Maler wie
Schwarz-Weiß-Künstler eifrig
studiert hat, braucht nicht
erst betont zu werden. Aber
auch damit wäre er noch
nicht gekennzeichnet, wenn
man nicht einen Schuß des
Rokokogeistes, in seiner schön-
sten Verkörperung, Mozarts,
hinzugebe. Es ist ja kein Zufall,
daß Meid dessen Don Juan
radiert hat, übrigens ehe ihm
noch seine Vorstellungen dieses
Werkes durch eine Aufführung
verunstaltet wurden.
Auch daß dem Künstler
sich gerade zwei Bühnenwerke
als Motive für seine Radie-
rungskunst aufdrängten, hat
natürlich tiefere Gründe. Es
liegt etwas Freies, Leichtes in
seiner Kunst, ein Zug phan-
tasievollen Spielens. Nicht die
Wirklichkeit, sondern (dies
Wort im weitesten Sinne ge-
braucht) die Traum Vorstellung,
die schon die Dinge des Le-
bens subjektiv umgeschmol-
zen hat, ist die Heimat seiner
Radierung. Daher auch die
Scheu, die Vorgänge aus ihrem
Hans Meid:

Hintergründe zu plump und deutlich hervortreten zu lassen, wodurch ihnen ihr
Visioncharakter geraubt würde. Gerade dieses Andeuten hat aber seine hohen ge-
schmackvollen Vorzüge, als fühlte man die Arbeiten gleichsam unter der zartpflegenden
Hand des Künstlers hervorwachsen, und es bliebe etwas des geheimnisvollen Unter-
grundes haften, dem ihre Wurzeln angehören.
Wie ausgezeichnet ist der Geist der Oper in den beiden Blättern aus dem Don-
Juan-Zyklus festgehalten, die diesem Aufsatz gleichfalls als Abbildungen beigefügt sind.
Bei der „Auffindung der Leiche des Komtur“, die pathetisch-leidenschaftlich auf-
schreiende Tochter und die Diener, die in dramatischem Schwünge mit den Lichtern
herbeistürzen! Man glaubt die Musik zu vernehmen. Und welchen festlich-üppigen,
glänzend heiteren Eindruck gewährt das mit Kerzen hell erleuchtete Haus Don Juans,
vor dem die drei Masken — wohlgemerkt in einer Überschneidung stehen, wie man sie
etwa vom ersten Rang aus sehen würde! Der Verführer selbst ist durch den Luxus
dieses Hauses, auf dem schon dunkle Schatten liegen, vortrefflich charakterisiert. Aber
all diese Blätter, mögen sie auch als Illustrationen dienen, haben doch ihren eignen
künstlerischen Mittelpunkt.
Dem üppigeren Schaffen der Phantasie Hans Meids im Othello- und erst recht im
Don-Juan-Zyklus entspricht auch die Technik, deren er sich hier bediente. Während
er im ersten Jahre seiner
Schwarz-Weiß-Kunst gern die
kalte. Nadel und später die
Schneidenadel anwandte, um
mit einigen Linien, gleichsam
durch das Raffinement der
Sparsamkeit eine hohe Deli-
katesse zu erzielen, sind diese
beiden Zyklen in einer Grab-
stichelart ausgeführt, die eine
Fülle von Licht und Schatten
variiert. Dadurch hat sich
Hans Meid das geeignete Aus-
drucksmittel geschaffen.
Es ist verständlich, daß
eine Charakteristik dieses
Künstlers gleichsam abbrechen
muß, da Hans Meid uns durch
seine Entwicklung sicherlich
noch manche Überraschung
bereiten wird. Denn es steht
außer Frage, daß die Energie
dieses Dreißigjährigen, die sich
wie in seiner Kunst so auch
in den ruhigen, ernsten Zügen
des Menschen Meid ausprägt,
nicht rasten wird. Interessant
ist es vielleicht, von einer
Kunst auf die andere überzu-
gehen und auf unsere Dich-
tung hinzuweisen, in der das
Element des Traumes gleich-
falls neue Geltung gewonnen
hat. Ja selbst die Mahnung
Hugo von Hofmannsthals, in
dem ja auch die Kultur des Ro-
koko lebt, klingt an: das Leben
wie ein Schauspiel zu genießen
und ihm zuzusehen.
Nachtstück.

Das „absolute Gehör“.

Von Dr. Paul Ertel.

ar nicht selten hört man in musikalischen Kreisen vom „absoluten Gehör“
sprechen; und mit Stolz erzählt dann jemand, daß er es besitze. Jeden
irgendwo erklingenden Ton könne er sofort genau abschätzen, ja noch mehr,
er vermöge auch jeden gewünschten Ton sofort einwandfrei zu singen. Natür-
lich erregt diese scheinbar übernatürliche Begabung allseitig Staunen, und gern
läßt man die Probe auf das Exempel machen, indem man einen beliebigen Ton
auf dem Klavier anschlägt, den der Wundermann tatsächlich richtig „errät“.
Wie ist das Phänomen zu erklären? Zunächst sei einmal festgestellt, daß der
Ausdruck „absolutes Gehör“ nicht richtig, zum mindesten irreführend ist. Denn
nicht das „Gehör“ ist absolut, sondern vielmehr das Tonbewußtsein, d. h. die
Fähigkeit, sich der bestimmten Lage eines Tones im Gehirnzentrum bewußt zu
sein. Diese Fähigkeit ist nur bei wenigen Menschen vorhanden, denen in
glücklicher Laune die Natur im Ohre selbst ein so feines Nervenorgan geschaffen
hat, daß sie mit positiver Sicherheit, ohne sich zu irren, jeden Ton genau er-
kennen können. Sie ist stets angeboren und kann durch keinerlei Übung er-

[Nachdruck verboten.]
worben werden. In der Regel nimmt man an, daß in dieser Weise begnadete
Menschen unter allen Umständen auch „musikalisch“ prädestiniert seien. Das ist
ein weit verbreiteter Irrtum. Denn zahlreiche Versuche haben die unumstößliche
Tatsache ergeben, daß mit dem absoluten Tonbewußtsein begabte Menschen oft
gänzlich unmusikalisch veranlagt sind. Wie man sieht, ist also ein besonders
scharf entwickelter Sinn noch lange nicht identisch, mit dem eigentlichen künst-
lerischen Talent oder Genie, das wir so oft anstaunen. Aber andererseits steht
es auch fest, daß fast den meisten „Künstlern“, wenn sie als solche in Betracht
kommen, jener abnorm entwickelte Sinn angeboren ist. Nur ganz vereinzelte
Ausnahmen sind bekannt. So soll z. B. Richard Wagner in einer Abendgesell-
schaft, wie ein glaubwürdiger Zeuge aus jener Zeit berichtet, es nicht gemerkt
haben, daß eine bekannte Klaviervirtuosin den berühmten „Walkürenritt“ in
C-Moll (statt in LI-Moll) spielte. Das ist zwar eigentümlich, beweist aber aus
den oben angeführten Gründen nichts gegen das Genie Wagners; denn die
umgekehrte Schlußfolgerung ist auch die, daß man das absolute Tonbewußtsein
 
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