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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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Die deutsehe ßühnenkunst der Gegenwart.
Von Julius Bab.
Alle Entwicklung der Bühnenkunst, jede Stilform
des Theaters ist auf einer Linie zu finden, die von der
rein geistigen Repräsentation zur ganz naturalistischen
Entfaltung führt. Das vollkommene Klarstellen einer
Bedeutung — das über alles Besinnen Mächtigwerden
einer Illusion — das sind die zwei entgegengesetzten
Ziele, denen Theaterkunst zustreben kann; und je nach
Stimmung der Zeit und Art der Menschen wird das
Zentrum der Szenenkunst nach dieser oder jener Seite
verrückt. Dem Deutschen hatte nach stark naturali-
stischen Anfängen der Weimarer Theaterstil Goethes ein
Bühnenideal gegeben, das ganz wesentlich zu dem be-
deutsamen, gemessen schönen, geistig repräsentativen
Pol neigte. Das 19. Jahrhundert verging in zahlreichen
Versuchen, die naturalistischen Instinkte, die mit un-
bändiger Leidenschaft stärkere Illu-
sion erstrebten, mit diesem Stil der
gemessenen Schönheit auszusöhnen,
und eine Zeitlang war Wien, diese
Stadt anschmiegsamer Lebendigkeit,
die führende Stadt deutscher Theater-
kunst, weil hier der Kompromiß am
besten gelungen war. Die ganze
geistige Entwicklung des deutschen
Jahrhunderts aber brachte es mit sich,
daß schließlich den naturalistischen
Instinkten ein Sieg werden mußte.
Die neue Hauptstadt des Deutschen
Reiches, der Sammelpunkt aller
materiellen Kräfte, Berlin, erhielt das
naturalistische Theater reinen Stils.
Es war Otto Br ahm, unter
dessen Führung erst innerhalb der
Freien Bühne, dann am Deutschen
und schließlich am Lessing-Theater
zu Berlin diese energische Verlegung
des Theaterstils nach dem Pol der
naturtreuen Illusion erfolgte. Da die
Zeit damals vor 1890 eine ästhetische
Theorie und vor allen Dingen eine
dramatische Literatur hervorgebracht
hatte, die gleichfalls von dem Ideal
der möglichsten Naturtreue ausging,
erreichte der „Naturalismus“ auf der
Bühne unter dem Kritiker Brahm
eine Vollkommenheit, eine ganz
gleichmäßige Konsequenz nach allen
Seiten, wie sie ihm noch nie vorher
in Deutschland beschert war. Dies
ward freilich um den Preis erreicht,
daß Brahms Kunst nur so weit reichte,
wie die mit der naturalistischen
Doktrin einigermaßen verträglichen
Werke der dramatischen Literatur,
und nur so lange stark war, wie
die Leidenschaft sehr bedeutender
Menschendarsteller diesem natür-
lichen Ensemble doch heimlich ein
stilisierendes Element zuführte. Denn
es ist das Geheimnis aller Entwick-
lung, daß an den Polen selber die
Starre, der Tod ist, und nur dort,
wo die Kräfte sich mischen, das
Leben. Die erstaunlich zähe, fanatisch
konsequente Art, in der Brahm seine
naturalistische Bühne leitete, schuf
also bedeutende Kunst nur so lange,
als die Dichter seiner Wahl (besonders
Ibsen, Hauptmann, Schnitzler) ihm
Texte lieferten, die den Schein voll-
kommener Naturnähe doch nur als ein
Stilmittel zum Ausdruck ihrer besonderen fatalistischen
Weltanschauung gebrauchten, und als große Menschen-
darsteller (wie Reicher, Rittner, Sauer, Bassermann und
die Else Lehmann) unter dem Schein alltäglichster Natur-
wahrheit doch die wuchtig stilisierenden Kräfte ihrer
ungewöhnlichen Natur spüren ließen. Als die Alm jener
Dichter abgeweidet war, und die Schar jener Darsteller
sich verstreute, da mußte sich das Brahmsche Prinzip,
das im Unterdrücken jeder vordringlichen Effekthascherei,
im Ausmerzen aller sachlich unbegründeten Augen-
blicksschönheiten, im Ausrotten alles Bunten und Grellen
auf der Bühne bestand, als ein rein negatives Prinzip
zeigen, mit dem allein man zwar Schlechtes vermeiden,
aber nicht Gutes schaffen konnte. Brahm hatte von vorn-
herein weder Willen noch Fähigkeiten gezeigt, die
Klassiker, von deren Werken er doch im Repertoir des
Deutschen Theaters eine große Zahl übernommen hatte,
zu pflegen; er hatte Schauspieler von so außerordent-
licher stilistischer Schönheit wie Joseph Kainz und die
Sorma gehen lassen und jüngere, die diesen nachstrebten,
nicht engagiert. Er mied auch von dem ganzen reichen
Nachwuchs der europäischen Dramatik alles, was nach
seinem naturalistischen Dogma nicht zu loben war.
So kam, nachdem das enge Feld seines eigentlichen
Könnens erschöpft war, höchste Monotonie und Starre

über seine Bühne; nach so glänzenden Taten versank
sie allmählich in Gleichgiltigkeit und Langeweile.
Damals in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts
war es, als sich aus der Brahmschen Schule eine Schar
junger Leute löste, die von ihm wohl die leidenschaft-
liche Mühe um den Schein voller Lebenswahrheit ge-
lernt hatten, mit ihrem Temperament, ihrem Weltgefühl
aber nicht auf jenen engen Kreis beschränkt waren, den
das Brahmsche Dogma setzte. Das literarische Vorurteil,
das den Alltag gegenwärtigen Lebens zum Maßstab aller
Natur machen wollte, fehlte diesen jungen Leuten, meist
Schauspielern, ganz. Sie waren willens, die volle Illusion
für eine viel weitere, viel buntere, viel stärkere Natur
zu erzwingen. Dies ist das Zeichen, in dem der Führer
dieser Schar, Max Reinhardt, schließlich gesiegt und
Berlin zum zweiten Male zur Hauptstadt des theatra-
lischen Deutschlands gemacht hat. Der glänzende Auf-
stieg Reinhardts, der binnen kurzem Brahms Erbe in

der Direktion des Deutschen Theaters wurde, bedeutet
stilgeschichtlich keinen Rückschlag gegen die Periode
Brahms — auch Reinhardt ist Naturalist. — Es ist kein
Zufall, daß er seinen ersten großen Erfolg mit einem
russischen Elendsstück „Nachtasyl“ von Gorky hatte,
das seinem ganzen Wesen nach ebensogut auf der
Brahmschen Bühne möglich gewesen wäre. Aber Rein-
hardt hat den Naturbegriff über solche erschütternd
treue Alltagsschilderungen hinaus mächtig erweitert. Für
eine Fülle anderer Lebensformen erstrebte und erzwang
er Illusion. Die Epoche der neuen Theatermüdigkeit, mit
der das Erlahmen der Brahmschen Kunst die gebildete
Welt damals bedrohte, hat er beendet, indem er den
dramatischen „Naturalismus“ verlies und für den sinn-
lich naturalistischen Stil der Bühne die großen Dramen
der Klassiker neu eroberte. Zunächst aber machte er
jene Dramen der neuen Romantik bühnenfähig, mit
denen Maeterlinck, Hofmannsthal, Wedekind und Wilde
das naturalistische Schauspiel in ähnlicher Weise ab-
lösten wie Reinhardt den Bralnn.
Das erste Mittel, das Reinhardt aus seiner sinnlich
reichen Natur für die Wiederbelebung der Schaubühne
einzusetzen hatte, war eine künstlerische Durchdringung
des sichtbaren Elements der Szene, die Erneuerung des
Bühnenbildes. Brahm hatte für keine Szene Sinn ge-

habt, die mehr als graue Wände verlangte, und an den
Bühnen älterer Tradition herrschten die kläglichsten
Epigonen der Historienmalerei, deren Leinewände besten
Falls wissenschaftlich richtige Andeutungen über den
stofflich geforderten Raum .gaben, die aber eine wirk-
liche Raumillusion so wenig erreichten, wie einen sinn-
lichen Eindruck, der zu den Gefühlsvorgängen der be-
treffenden Szene in irgendeinem Verhältnis stand. Hier
hat uns Reinhardt aus phantasieloser Nüchternheit und
sinnlosem Schlendrian befreit, indem er die Künstler,
die seit ein paar Jahrzehnten eine neue Kultur des Auges
in Deutschland erkämpften, ans Werk berief. Männer
wurden seine Mitarbeiter, deren Raumfüllung nicht nur
verstandesmäßig etwas bedeutete, sondern gefühlsmäßig
etwas war — etwas sinnlich Packendes, Einstimmendes.
Mit Max Kruse, Walser, Roller, Orlik und anderen hat
Max Reinhardt Szenenbilder geschaffen, die die Illusion
eines echten Raumes so stark geben, wie irgendeine
Brahmsche Hütte, und zugleich am
Ausdruck der geforderten Stimmung
so planvoll mitarbeiten, wie nur ein
echtes Kunstwerk. In den letzten
Jahren wurde der phantastisch be-
wegliche Ernst Stern sein Hauptmit-
arbeiter, und der hat besonders in
der Art, wie vor dem neuen, weiß
gemauerten Horizont wenige massive
Körper in rechte Beleuchtung gesetzt
werden, so großzügige Wirkungen
erzielt, wie sie mit der bemalten,
schwankenden, durchscheinenden
Leinewand niemals zu erreichen
waren.
Das Entscheidende aber war
natürlich die Art, in der diese neuen
szenischen Rahmen gefüllt wurden.
Daß auch bei der Kostümierung und
zuweilen auch bei der Gruppierung
der Schauspieler der Maler eine
Stimme hatte, und sehr abgewogene
Farbenwirkungen durch den Sinn zur
Seele mitsprechen durften, das ist
nur ein Nebenmoment. Auf die
schiefe Bahn jener malerischen Büh-
nenreformer, die wie die Begründer
des Münchener „Künstlertheaters“
die Schauspielerei in eine Reihe
lebender Bilder auflösen möchten, ist
Reinhardt nie geraten. Er hat immer
gewußt, daß das innerste Lebens-
prinzip des Theaters die rhythmisch
gegliederte, aber ununterbrochene
Bewegung ist, und es ist vielleicht
der eigentlichste Fortschritt seiner
Regie über Brahm hinaus, daß er
entdeckt hat, daß der Schein der
Natürlichkeit nicht an die phlegma-
tische Langsamkeit des Alltags ge-
bunden ist, daß Natur zu uns auch
aus dem Sturmwind des heftigsten
Temperaments sprechen kann, wenn
es nur der lückenlosen Durchführung
gelingt, uns an die Notwendigkeit,
die Echtheit dieses Tempos glauben
zu lassen. Tatsächlich hat Reinhardt
seine;zeit, als sein Ensemble an
bedeutenden Einzeldarstellern noch
sehr arm war, schon mächtige Erfolge
erzielt durch die atemlose Bewegung,
in der er seine Spieler zu erhalten
versteht. Damit ist nicht etwa ein
unterschiedloses Herunterhetzen des
ganzen Textes gemeint: im Gegenteil
die wuchtig einschneidende Art, mit
der Reinhardt durch tausend Hemmungen, Stockungen,
Pausen, Neuanschwellungen ein stürmisch pacl;endes
Grundtempo rhythmisch auszugestalten weiß, ist gerade
seine vollendetste Kunst. Wie er der scheinbar ab-
gestandenen Masse von Goethes „Clavigo“ durch wir-
belnde Bewegung ein neues Leben, und zugleich durch
einschneidende Zäsuren eine überraschende Bedeutsam-
keit gab, ist unvergeßlich. Gewiß ist Reinhardt wie
jeder bedeutende Bühnenleiter auch als Finder und
Förderer von großen Schauspielertalenten allgemach
erheblich geworden. Naturen wie Kayßler, Wegener,
Gertrud Eysoldt konnten sich bei ihm entfalten, andere
wie Moissi, Victor Arnold, Tilla Durieux hat seine ruhige
Ausdauer aus kleinen Anfängen glänzend herangebildet.
Aber das Schwergewicht seiner Leistung liegt doch
nicht auf der Heranbildung und noch weniger auf der
stilistischen Vereinigung einzelner großer, schauspiele-
rischer Persönlichkeiten. Er ist und bleibt vor allem der
nachdichterische Schöpfer großer Ensemblewirkungen.
Wie er aus einem Nichts von Szenenanmerkungen eine
Fülle mannigfach variierter Straßenszenen und anderer
Pantominen als völlig organische Zwischenglieder in
ein Shakespearesches Werk einzusetzen versteht, wie
er durch 15 verschieden erfundene und durcheinander-
geschlungene stumme Spiele die erste Ensembleszene


XXVIII. 2. B.
 
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