Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI Heft:
8. Heft
DOI Artikel:
Steinmann, Anna von: Der arme Reiche: eine Weihnachtsgeschichte
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0253

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
io6

MODERNE KUNST.

Sie verstanden mich nicht: „Mutti“, flü-
sterte ich nun und schmiegte mich dicht an sie
— „mein Wunsch — mein einziger Wunsch —“
„Was“, fragte der Vater nun unwirsch,
„noch nicht genug? Das kommt von der Ver-
wöhnung. Er wandte sich ärgerlich ab — ich
aber schmiegte mich noch einmal an die Mutter,
freilich schon etwas verschüchtert. Mit der
letzten Kraft meines Kampfmutes stammelte
ich: „Mutti, schneid’t mir die Locken ab —!“
„Dummerchen!“ war ihre einzige Antwort
und um keine Auseinandersetzung zu haben
vor Fremden, wandte sie sich ebenso wie der
Vater unsern Gästen zu.
Gäste gehörten zu Weihnachten, wie zu
jeder Schaustellung! Was war es anderes?
Wenn man über die Herzenswünsche hinweg-
geht, wie soll man dann solche beladene Tische
nennen? Ich sah mir den Weihnachtsbaum nicht
an, und ich stand vor meinen Geschenken wie
vor dem Schaufenster eines Spielwarenlagers. Ich unterschied kaum die einzelnen
Stücke und ließ die Fremden sie bewundern und Mätzchen mit ihnen machen.


Freiherr von Münchhausen schlägt Funken aus seinem Auge. Illustration von Franz Wacik.
Mich gingen die Dinge nichts an. Ich wollte sie gar nicht einmal haben. Man hielt
mich sicherlich für ein blasiertes Kind, weil ich mit so freudlosen Augen daneben
stand. Wie konnten sie ahnen, was in mir weinte. Mich quälten peinigende Ge-
danken. Was würden meine Kameraden sagen, denen die stolze Mär doch schon
triumphierend verkündet war. Wie ein Lügner, wie ein Prahler mußte ich vor
ihnen stehen. Was würde vor allem mein kleiner Freund von mir denken?
Ich hatte doch nicht gelogen. Viermal „ja“ hatte die Mutter gesagt und
trotzdem —. Mir blieb nichts übrig, als der Wunsch, mich tief zu verstecken,
dorthin, wo mich keiner finden konnte. Und neben allem dämmerte ein tiefes
halb unbewußtes Gefühl in mir auf, ob meine Eltern mich lieb hätten, so wie sie
mich lieb haben müßten, wenn ihnen mein heißester Wunsch so gleichgültig, so
vollkommen gleichgültig war.
Von andern ernteten meine Eltern ungeteilte Bewunderung. Sie hatten mit
verschwenderischen Händen ausgeteilt. Unter Lachen und Scherzen gingen die
Erwachsenen zu Tisch. „Bubi spielt noch mit seinen schönen Sachen“, rief
meine Mutter mir im letzten Augenblick zu — dann war ich allein im Saal,
allein in dem Festglanz, allein mit meiner großen Enttäuschung. All der Glanz
um mich herum tat mir weh. Das Lachen, das aus dem Eßsaal herüberschallte,
tat mir auch weh. In Vaters Stube war es still, dahin trieb es mich. Ich kroch
auf seinen Stuhl und legte meinen Kopf auf den Schreibtisch, um weinen —
weinen zu können. Bis jetzt hatte ich krampfhaft das Schluchzen und die Tränen
zurückgehalten. Da fühlte ich es kalt auf meiner Stirn. Ich hob den Kopf und
nun umfaßten meine Augen etwas, das ihnen die ganzen Wochen blitzend gewinkt
hatte. Die große, große Scheere! Ein Freund in der Not. Ich umklammerte sie
mit meinen beiden Händen, lächelte sie an und liebkoste sie. Jetzt wußte ich,

was geschehen mußte. Ein Heldensäbel! Das
Werkzeug, mit dem sich das Kind emanzi-
pierte, emanzipieren mußte, weil es sich un-
verstanden fühlte und vergewaltigt.
Mit glückseligem Gesicht stand ich vor
dem Spiegel. Vergessen war alles, was man
mir angetan. In der rechten Hand hielt ich
die Scheere, die linke hob eine Locke nach der
andern hoch, um sie zur Köpfung zwischen
die blanken Schneiden zu stecken. Schnipp,
schnapp — schnipp, schnapp — schnipp,
schnapp. Jedesmal fiel eine Locke auf den
weichen Smyrnateppich, bis sie herunter waren
alle miteinander, leblos geworden, gelöst von
dem kreisenden Lebenssaft, entseelte Feinde!
Mit einer letzten Wut stampfte der Fuß das
geringelte Gold nieder, während die Augen
schon mit den grausam zackigen Stoppeln
liebäugelten. Nun war ich ein Junge wie die
andern. Ein herrlicher Ruppian! Kaum konnte
ich es fassen, aber nun sollten sie es wissen, alle, alle, alle.
Aber sie erfuhren es doch nicht. Nur eine. Es war die Mutter. Ihr lief
ich als erste in die Arme. Nie vergesse ich, wie sich ihr Gesicht veränderte.
War das noch die schöne anmutige Frau? Nein — das — doch lassen Sie mich
darüber schweigen. Eins nur will ich sagen . . Ich hatte ihre Pläne bitter durch-
kreuzt. Am Altjahrsabend hatte sie in einem lebenden Bilde stehen sollen,
das schöne Kind neben der schönen Mutter. Die Goldzierde war mein bester
Schmuck — was sollte sie mit dem kleinen Bengel anfangen, der ebenso aus-
sah, wie alle Bengel!
Was dann noch geschah, ob man mich strafte, ich weiß es nicht. Ich weiß
nur, daß ich unter Tränen einschlief und daß ich seit der Zeit nicht mehr neben
meiner Mutter auf der Promenade spazieren zu gehen brauchte.
Die Sammetanzüge verschwanden — sie wurden unter den neuen Verhält-
nissen stilwidrig — die Schule aber wurde mir von Tag zu Tage lieber.“
„Das war doch nur ein Weihnachtsfest, sagte Else von Rüdiger. Sollten
später bessere Erinnerungen nicht diese eine Enttäuschung ausgelöst haben?“
„Wenn sie es getan hätten, wäre es nicht der Mühe wert gewesen, diese
Erinnerung neu aufleben zu lassen“, sagte er bitter.
„Das Jahr ging hin. Es kam ein andres Weihnachtsfest. Seit acht Tagen
hatte der Winter sich mit seiner ganzen Kraft eingesetzt. Erst hatte es feste
gefroren und dann machte sich eine tiefe weiße Decke über die ganze Erde breit.
Die Schlitten klingelten und die Kufen flogen über die glattgezogene Bahn.
Überall, wo das Gelände sich neigte oder aufstieg, hatten die Kinder ihr Feld
gefunden. Sie rutschten, sie glitten, sie steuerten. Mit Juchhe ging es hinunter
in kurzer Fahrt, in kühnem Bogen oder auch aus der Bahn heraus in mißglücktem
überpurzelndem Schwünge. Wer einen Schlitten hatte, zog ihn heraus. Die
Großen saßen vorn, die Kleinen hinten drauf. Ich gehörte noch zu den Kleinen,
aber nicht zu den Allerkleinsten, sondern gerade zu der Sorte, die nun drankam,
auch solchen Schlitten als Eigentum zu besitzen, ihn selbst zu steuern. Jeder
Junge in unserer Klasse wünschte sich einen Schlitten zu Weihnachten. Aber




Freiherr von Münchhausen. Illustration von Franz Wacik.

Reineke und Grimmbart begegnen Martin dem Affen. Illustration von Karl Fahringer.
 
Annotationen