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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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15. Heft
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Anwand, Oskar: Unzüchtige Kunstwerke?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0440

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189

Unzüchtige Kunstwerke?
Von Dr. Oskar Anwand.


n letzter Zeit ist die Anteilnahme der Öffentlichkeit wiederholt auf Fragen
^er Kunst gelenkt worden, zu denen der Justizminister und Mitglieder
des Abgeordnetenhauses wie des Reichstags Stellung nahmen. Dieses
Interesse wurde durch mehrere Urteile hervorgerufen, in denen Reproduktionen
von Kunstwerken als unzüchtig konfisziert worden waren. Als Folge ergab sich
der lebhafte Protest der Künstler und
Erörterungen in den Zeitungen, wo-
bei dem Publikum aber das eigene
Urteilen unwöglich war, da ihm die
Grundlage hierfür: der Anblick der
bezichtigten Werke fehlte. Deshalb
halten wir es für unsere Aufgabe,
unserm Aufsatz über diese wichtige
Frage, eine Auswahl der Reproduk-
tionen beizufügen, um den Geist er-
kennen zu lassen, aus dem ihre Ver-
urteilung erfolgte. Als Grund wurde
wiederholt das Bestreben hervorge-
hoben, die Jugend vor der Erregung
unzüchtiger Instinkte zu schützen.
Zu diesem Zwecke haben einige
Gerichte seit mehreren Jahren vor
allem der Postkarte, die Abbildungen
künstlerischer Werke enthält, rege Auf-
merksamkeit zugewandt. Durch ihren
billigen Preis sei die Postkarte auch
der unmündigen Jugend zugänglich und
drohe sie zu verderben. So begann
ein fröhliches Jagen; in kurzer Zeit
wurden allein an Postkarten viele
Hundert Exemplare durch Konfiska-
tionen zur Strecke gebracht. Berühmte
Plastiken, die in den Gärten unseres
Kaisers, in den Museen, auf öffent-
lichen Plätzen und Straßen bisher un-
behelligt und ohne Ärgernis zu er-
regen gestanden hatten und weiter
stehen; eine stattliche Anzahl der be-
deutendsten klassischen Gemälde, wie
z. B. Tizians „himmlische und irdische
Liebe“, Rubens „Helene Fourment“
aus Wien usw.; ferner Werke gerade
unserer keuschesten Künstler wurden
als Postkartenschmuck ohne vieles Fe-
derlesen beschlagnahmt. Und warum?
Fand man die Werke selbst etwa un-
züchtig? — Nein, sondern das ist eben
das Seltsame; die Urteile ergaben die
höchst merkwürdige Verwandlungser-
scheinung, daß die Abbildungen edler,
sittlich-reiner Kunstwerke obszöne
Wirkungen ausübten! Man kann sich
mit seinem Laienverstand hiervon
schwer eine Vorstellung machen. Um
so weniger als Königlich-Preußische-
Ortsschulinspektoren und Schulrekto-
ren umgekehrt diese Postkarten „als
recht gut zu Unterrichtszwecken“ ge-
eignet bezeichnet haben und betonen,
auf ihnen trete das sinnliche Element
noch mehr als auf den Originalen zu-
rück, was ja schon die Verkleinerung
des Maßstabes ergibt. Man glaube auch nicht, daß die Postkarten durch schlechte
Wiedergabe das Original fälschen und entstellen; im Gegenteil sind diese
Reproduktionen gewöhnlich vorzüglich, da die Künstler sonst ihre Veröffent-
lichung gar nicht dulden würden.
Man sehe sich also die von uns reproduzierten Arbeiten an, die als Postkarten-
schmuck sämtlich unzüchtig befunden und konfisziert waren, bis das Reichs-
gericht das Urteil an ein anderes Landgericht zurückwies, wodurch die Post-
karten noch keineswegs freigegeben sind. Wie ist es möglich, daß Begas’ Gruppe
„der Raub der Sabinerin“, Sandor Jarays „Junge Liebe“, Segers schmerz-
volle „verwundete Amazone“, Lewin-Funckes lyrisch-verträumte „Brunnen-
figur“, Lepckes edel-stilvolle „Hero“ usw. auf normal empfindende Menschen
(denn um sie handelt es sich selbst nach dem Urteil der Gerichte) eine unzüchtige

[Nachdruck verboten.]
Wirkung ausüben! Völlig unverständlich wird das Erkenntnis des Berliner Land-
gerichts gegenüber Boeltzigs „Fruchtsammlerin“ und Zieglers „Bubi“, der sich
mit dem Schwamm wäscht. Hier kann man beim eifrigsten Suchen keine
Erklärung finden; fast möchte man annehmen, daß bei der Treibjagd einfach
niedergestreckt worden wäre, was sich im Kessel befand. Denn die soeben an-
geführten geradezu kindlich harmlosen
Werke stehen auf der Konfiskations-
liste nicht vereinzelt; so ist z. B. die
Reproduktion nach desselben Boeltzig
„Reifenwerferin“ — einem Werk völlig
ähnlichen Charakters wie die „Frucht-
sammlerin“, das noch dazu auf dem
Leipziger Augustusplatz seine öffent-
liche Aufstellung gefunden hat — gleich-
falls als unzüchtig erklärt worden.
Es ist selbstverständlich, daß kein
Verständiger gegen die Beschlagnahme
wirklich obszöner Postkarten etwas ein-
zuwenden haben wird. Im Gegenteil
muß man den Schutz der Jugend in die-
sem Falle dringend wünschen. Gewiß
befindet sich unter den Hunderten von
Postkarten auch die eine oder die
andere, die den Augen Unreifer viel-
leicht gefährlich werden könnte. Das
zugegeben, müssen derartige Fragen
aber in ganz anderer Weise gelöst
werden, als es heute seitens der Ge-
richte geschieht. Da geht der Schutz-
mann an den Läden vorbei oder in
die Läden hinein, kauft Postkarten und
bringt die Frage 1 ins Rollen. Aber
wie sollte dieser schlichte, in diesem
Fall noch dazu auf Äußerlichkeiten ge-
drillte Mann das Unterscheidungsver-
mögen zwischen dem Geist und Rhyth-
mus, der aus den Formen eines Kunst-
werks spricht, und zwischen einer zum
Anreizen erschaffenen Nudität besitzen!
Für ihn ist nackter Leib eben nackter
Leib, und Busen bleibt Busen, d. h. un-
züchtig. Stehen doch die Gerichte
selbst, wie zahlreiche Urteile ergeben
haben, auf demselben Standpunkt; denn
während zu allen andern Prozessen,
wo dies irgend notwendig ist, Sach-
verständige sogleich hinzugezogen
werden, hat man sie hier immer
wieder abgelehnt. Daß ein Körper
oder ein Körperteil nackt war, konnte
ja jeder sehen und hatte bereits der
Schutzmann konstatiert; ebenso konnte
man merken, wenn sich zwei küßten —
nur das „geistig Band“ wurde nicht
beachtet. Mit welchen Augen man die
Kunstwerke betrachtete, mögen als
Probe zwei Definitionen ans einer An-
klageschrift zeigen. Das bekannte Ge-
mälde „Liebesrausch“ wird darin ge-
schildert: „Dargestellt ist ... . ein
Liebespaar. Eine Dame im Ballkostüm,
die in die Ecke eines Sofas hinein
gelehnt liegt, wird von einem hinter demselben stehenden, sich zu ihr her-
nieder beugenden Herrn geküßt. Die Karte bedeutet eine Verherrlichung des
Ehebruchs“ (1!!). Und P. P. Rubens Helene Fourment aus Wien, dies Hohe-
lied auf üppig erblühte Frauenschönheit, sicht hier folgendermaßen aus: „eine
mit einem Mantel dürftig bekleidete Frauensperson, die mit dem gekrümmt
gehaltenen rechten Arme die Brüste nach oben zusammenpreßt“ (1!). Fügt man
noch hinzu, daß die Urteile der verschiedenen Gerichte deutscher Städte über
dasselbe Kunstwerk resp. dieselbe Postkarte völlig verschiedenartig ausfallen
d. h. sich häufig direkt widersprechen, und daß ferner die Einzugsinteressenten,
z. B. der Kunstverlag, der die Postkarten herstellte, vielfach erst nach der Ver-
urteilung zu hören bekommen, daß eine Verhandlung schwebte; so kann man sich
von der Rechtsunsicherheit, die mit dieser Art Rechtsprechung verbunden ist,

Unzüchtige Kunstwerke? Re i n h o ld Feld erhoff: Mutter.
Mit der Goldenen Medaille Berlin 1911 prämiiert.

XXVIII. 48.
 
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