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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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25. Heft
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Dorret, M.: Ich lasse dich nicht, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0749

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3T4

Ich lasse dich nicht.

Von M. Dorret.

Sg [Sch,uß-]
nch lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Erstes Buch Moses
pJ> (Genesis). Scharf betont, gleichsam wie harte Steine fallen die
Worte von der Höhe der Kanzel. Der sie so hinüberruft wie einen
weckenden, tönenden Schlachtschrei über die Köpfe der Menschen da unten,
ist ein hagerer, asketisch aussehender Mann. Margret Kerstens hebt den Kopf.
Von weither, einen dunkeln, schweren
Weg kommen die Gedanken.
Wer rief da ? .... Die scharfe,
klingende Kommandostimme spricht
weiter. Sic hört es nicht. Ich
lasse dich nicht.
Der Geistliche dort oben beugt
sich weit vor über die Brüstung der
Kanzel. Die weiten Ärmel seines
Talars fallen zurück, er spricht mit
weitausholenden lebhaften Bewe-
gungen, gleichsam als müsse er denen
dort unten die aufrüttelnden Worte
zuwerfen: Da, nehmt euch alle da-
von, soviel ihr braucht, was ihr
braucht, um weiterzumachen im
neuen fremden Jahr. Nehmt Liebe
von dem, der sie täglich und stünd-
lich euch schenken will .... gebt
einander Liebe. Die Welt ist leer
und furchtbar ohne Liebe.
Im tiefen Schatten der mächtig
emporstrebenden Säule war ein
Ringen, das ging bis aufs Blut. Es
kostete Riesenkräfte. Die, auf ein
ganzes Menschenleben verteilt, immer
noch ausgereicht hätten, es reich an
Leid und Kampf und Not zu machen.
„Und noch einmal: Ich lasse
dich nicht! Kraft meiner Liebe darf
ich es, kann es. Und muß es.
Kraft meiner Liebe. Amen."
Eine Bewegung ging durch die Menschen, die bis jetzt lautlos, wie in
einem Bann gesessen hatten. Die unwillkürliche Bewegung der Masse nach
langem Stillsitzen: Auf husten, ein Scharren vieler Füße, ein Rauschen ....
Margret Kerstens sah auf. Ihr Gesicht leuchtete förmlich weiß aus der
Dämmerung. Aber es war ganz still, tiefinnerlich gesammelt. Ihre Lippen
bewegten sich .... Von droben, wo die hellen Frauen- und dunkeln Männer-
gestalten im Schein der kleinen Lampen neben der dunklen Orgel sich zurecht-
stellten, kamen ein paar weiche Harpegien. Und wundersam leise und zagend
zuerst, dann immer mächtiger anschwellend zu einem einzigen Aufschrei,
aus geängsteter Menschenbrust klang es über die atemlos Lauschenden:
„Herr, bleib bei mir, denn es will Abend werden. Und der Tag hat sich
geneiget . . .
Margret Kerstens schließt die Augen. Das sind keine Menschenstimmen
mehr. Aus fernen Weiten kommt die Bitte. Und ein Schluchzen ist drin
von mutlosem zerstörten Leben. Und ein Ringen ist drin um ein armes
bißchen Menschenglück. Und ein letztes Stillewerden ....
Um sie herum erheben sich die Menschen. Hastig drängen sie an ihr
vorbei, die vornüber gebeugt dasitzt und immer noch den vcrschwcbenden
Tönen dort oben in der weiten Wölbung des Daches nachhorcht.
Und dann ist sie mitten unter den Leuten. Rasch, elastisch, wie getragen
von einem neuen fremden Leben geht sie durch eins der stillen Seitenschiffe.
Und tiefaufatmend trinkt sie noch, einen Augenblick an der kleinen
eisenbeschlagenen Nebenpforte stehend, die kalte Nachtluft in sich ein . . .
Drüben vor dem mächtigen Hauptportal, dessen beide Flügel weit zurück-
geschlagen sind, hält die Exzellenz Kerstens eine Art Defilierkur ab. Es


J. Oppenheimer: Stilleben.

[Copyright 1914 by Rieh. Bong.]
ist das eine ihrer kleinen Schwächen, gegen die ihr Mann längst nicht mehr
ankämpft: sie bestellt den Wagen immer eine Viertelstunde später als nötig.
Sie genießt in dieser einen Viertelstunde sozusagen kondensiert, immer wieder
aufs neue und ganz naiv offenkundig, das köstliche Machtbewußtsein ihrer
Stellung. Sie läßt sich, auf der letzten Stufe des Portals stehend, in ihren
kostbaren Persianer gehüllt, die neu
Herversetzten vorstellen. Sie teilt
da mit ihrer immer etwas heiseren,
lauten Stimme ihre Gnaden aus.
Dabei vergißt sie nie, in Pausen
über die unverantwortliche Un-
pünktlichkeit ihres Kutschers sich
zu ergehen. Aber das wirkt natür-
lich längst nicht mehr. Die freche
Leutnantshorde nennt das sehr de-
spektierlich: Die Kirchenparade Ihrer
Exzellenz.
Man hat eben die Tochter ent-
deckt, die langsam auf die Gruppe
hellgrauer Militärmäntel und blin-
kender Helme, kostbarer Pelzwerke,
Riesenhüte und einfacher Schneider-
kostüme zukommt.
Die Frau des Kommandeurs geht
mit ihren raschen, federnden Sport-
schritten auf das Mädchen zu:
„Liebstes Kind, lassen Sie sich
fix sagen, wie riesig wir uns mit-
freuen . . . Ihre Frau Mutter war
vorhin so gütig . . .
Margret Kerstens vermag ein
ganz glaubhaftes Lächeln sich ab-
zuringen und beugt sich dann sehr
tief — unnötig tief —, um Frau
Runker die Hand zu küssen.
Der Hauptmann Enders, der
alles immer weiß, ehe die anderen
es auch nur ahnen, und sich selbst für einen „Kavalier“ hält, welche Ansicht
das Regiment nicht unbedingt teilt, verbeugt sich mit dem unbeweglichen
Gesicht, das er als erforderlich für den „gent“ hält, im übrigen aber auch
durch sein randloses Monokel bedingt ist:
„Gnädigstes Fräulein, der Tag, an dem wir Sie als eine der Unsern
begrüßen dürfen, ist für das Regiment ein Gnadensonnentag.“
„Enders, das ist diesmal ziemlich geschmacklos ausgefallen“, sagt die
hübsche, ganz in Pelze eingehüllte Frau des Regimentsadjutanten. Und
dann legt sie den Arm um das Mädchen, das mit einem Male leise zu
schwanken beginnt:
„Margret, das Zeug hier ist Ihnen in den Magen gefahren. Ich seh’s
Ihnen an. Wenn Sie einmal einen Menschen brauchen, der’s sehr herzlich
mit Ihnen meint . . . Harry Tennow ist meines Mannes Freund. Und -
ich habe meinen Mann sehr lieb, Margret ....
Auf Margret Kerstens Zügen liegt ein seltsamer Ausdruck. Ein paar
Leutnants, die abseits stehen, sehen zu ihr herüber. Und einer von ihnen
sagt ganz erstaunt zu den Kameraden: „Nanu, das Exzellenzengör sieht
ja heute ganz nett aus. Wenn’s wirklich wahr ist, die Geschichte mit
Tennow — so ganz dumm ist er am Ende doch nicht, wenn er vor
Torschluß noch abhalftert.“ Und die anderen nicken tiefsinnig.
Die Exzellenz sieht sich nach ihrer Tochter um, ihr Mann steht schon
neben dem eben vorgefahrenen Wagen.
„Wo ist denn dein Verlobter“, sagt sie nicht eben übermäßig gedämpft.
Man lächelt diskret und zieht sich ein wenig auffällig von der Familiengruppe
zurück. Also faktisch ....

Aus dem Ivunstsalon J. Casper,
Berlin.
 
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