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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 1.1900/​1901

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Nr. 10
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https://doi.org/10.11588/diglit.47723#0458

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417

96 Cathedralen des Continents auf 400 Tafeln
und in rund 4000 Details; sein Werk hat nicht
nur den grossen Vorzug der Uebereinstimmung
der Scalen der verschieden Kirchen, ein Vor-
zug, der die Vergleichung der Dimensionen der
einen Cathedrale mit denen jeder der anderen
mit Leichtigkeit ermöglicht, sondern es giebt
vor allem von jeder der 92 Kirchen eine er-
schöpfende abgeschlossene Monographie und
ist somit in der That ein vergleichender Atlas
zur Geschichte der Gothik. Ganz anders
Wilson: Er hat nirgends auch nur den Versuch
gemacht, irgend ein berühmtes gothisches
Denkmal, erschöpfend (‘completely’) zu illu-
strieren; er hat vielmehr kritiklos zusammenge-
rafft, was ihm an Photographien unter die Hände
kam. Beieinersolchen „Buchmacherei“ kann man
natürlich kein abgeschlossenes Bild jener hohen
Begeisterung für grossartige Bauwerke erwarten,
die in Frankreich die Geburt und glänzende
Entwicklung der Gothik ermöglichte. Wilson’s
Abbildungen der Cathedralen zu Paris (Notre
Dame), Bourges, Le Mans, etc. sind miserable
und ermöglichen keinen Begriff von der maje-
stätischen Pracht dieser Monumente französ-
ischer Gothik — und dieser Begriff ist es doch
wohl, den sich der Laie verschaffen will, wenn
er ein Buch über französische Gothik kauft.
Ebenso ist es mit den Details der Aus-
schmückung dieser Kirchen, vor allem mit
den Skulpturen. Bei einem Buche, das die
gothische Kunst Frankreichs in 200 Abbild-
ungen interpretieren will, darf man füglich
eine Berücksichtigung jenes herrlichen figuralen
und ornamentalen Schmucks voraussetzen,
den z. B. die Kirchenportale des 13. Jahrhunderts
aufweisen. Einige positive Hinweise mögen die
Mängel des Wilson’schen Buches illustrieren.
Die Cathedrale zu Albi ist bekanntermassen
ein äusserst interessantes Dokument für die
Geschichte der Gothik im Westen Frankreichs.
Einerseits kommt hier englischer Einfluss als
massgebend in Betracht; andererseits bezeugt
dieses Denkmal aber auch, dass in Aquitanien
genau so wie im norddeutschen Tieflande der
Backsteinbau gewisse Vereinfachungen des
Systems inaugurierte — es finden sich an
Stelle der Seitenschiffe Kapellen und über den
Kapellen Emporen, die fast bis zur Mittelschiff-
höhe hinaufreichen, so dass der Innenraum einer
Hallenkirche ähnlich wurde und mit einem
einzigen Dache überdeckt werden konnte.
Auch andere zum Teil dem Klima angepasste
Züge teilt diese Cathedrale mit anderen Kirchen
der Gegend (vgl. z B. Adamy, Architektonik des
M. A. II, S. 610): sie verzichtet auf das leichte,
hoch aufsteigende System und betont mehr
die Horizontalrichtung; zugleich zeigt sie die
Vorliebe für grosse Massen und bildet in eigen-
tümlicher Weise die Strebepfeiler nicht eckig,
sondern rund. Der Turm nimmt sogar unter
diesen Einflüssen das Aussehen eines mächtigen
Donjon an, als ob die Verteidigung der Haupt-
zweck wäre. Das ist uns aber eine Erinnerung

an die Bauten der Mark Brandenburg, wie auch
an die der Deutschordensritter in Preussen,
wiewohl die Ausführung so sehr verwandter
Ideen hier wie dort ganz individuell erfolgt ist.
Damit ist aber die Bedeutung der Cathedral-
kirche zu Albi noch nicht erschöpft: Ihre Bau-
geschichte währt von 1282 bis ins Jahr 1512,
sie u. a. auch ein Dokument für den Ueber-
gang der Spätgothik in die Frührenaissance,
und ihr Südportal ist in dieser Hinsicht ein
kunstgeschichtliches Denkmal von grösster
Wichtigkeit. Was bietet uns Wilson von dieser
Cathedrale? — 9 wertlose Photographien, das
Südportal u. A. bleibt ihm Hekuba. Ich muss
gestehen, dass ich bezüglich dieses Monuments
gothischer Kunst immer noch lieber Seemanns
Kunsthistorische Bilderbogen und Lübke em-
pfehle, als Wilson’s Buch. Ebenso ist es mit
der Kathedrale von Chartres: Auch hier 9 zu-
fällig aufgenommene Photographien — und
Chartres gehört neben Reims und Amiens zu
den vorzüglichsten Marksteinen der glänzendsten
Epoche gothischer Kunst in Frankreich — das
Süd-, wie das Nord-Portal, die Kleinodien
dieses Monuments gothischen Geistes sind hier
gleicherweise schnöde ignoriert.
Natürlich bin ich mir vollkommen klar über
die Schwierigkeiten, die einem Autor oft, um
nicht zu sagen immer, entstehen bei der Be-
schaffung des Illustrationsapparates. Aber das
entschuldigt nicht jene hier gerügte kritiklose
„Buchmacherei.“ Als ich z. B. vor Kurzem
gebeten war, das Illustrationsmaterial für eine
allgemeine Kunstgeschichte zu sichten, habe
ich alle Photographien des Bamberger Doms
beiseite schieben und auf die Zeichnung bei
King zurückgreifen müssen. Darum ist eben
die Kenntnis der einschlägigen Litteratur
unerlässlich nötig. Aber diese geht unserem
Autor ganz ab. Solche Ausführungen, wie
’There is a sameness about Bourges, Chartres,
Rheims, and Tours which shows that they
were all inspired by Amiens, the first and most
completeexampleofthirteenth-century churches?
(p. 102) = ’The first aim of the Gothic architect
wasto secure altituded (Introduction) =’Thegreat
aim of the French architect was to secure height
in the interior of his church — towers and
spires of height greatly disproportionate to the
heigth of the roof-ridge are more characteristic of
English and of Spanish than of French churches?
(pp. 113— 114) — solche dicta sind selbst den
frommen Lesern des Churchman nicht zuzu-
muten, denn sie bekunden offene Rückständigkeit,
wissenschaftliche Impotenz und sie beschliessen
in sich die Gefahr, den Laien statt zu einem Ver-
ständniss, zu einer Würdigung der Gothik an-
zuleiten, ihn davon abzuschrecken. Ich ver-
zichte darauf, weitere Don Quichoterien des
Autors — man wird mir verzeihen, dass ich
einen drastischeren Ausdruck unterdrückt habe
— hier zu verzeichnen; aber ich warne davor,
dieses Buch ernst zu nehmen — dass es auf
immer figurieren wird in den Annalen der
 
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