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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 1.1900/​1901

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Nr. 4
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Halm, M.: Nikolaus Gysis
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185

NIKOLAUS GYSIS t.
Von Dr. Ph. M. Halm.

Vor wenigen Tagen wurde uns der Besten einer
im Reiche der Kunst entrissen, Nikolaus Gysis. Der
still schaffende Meister ist eingegangen zu ewiger Stille
und Ruhe, er hat seinen Pinsel zurückgelegt in die
Hände des Schöpfers, der ihn so Herrliches einst schaffen
hiess. Wir haben viel, unendlich viel an ihm verloren,
weit mehr, als wir jetzt unter dem Drucke des momen-
tanen Verlustes des Edlen zu schätzen vermögen. Die
Nachwelt oder besser gesagt die Geschichte wird ihn
als einen Heros des Parnasses bezeichnen. Die feinfühlige
Eigenart seiner Kunst — wenn wir mit so trockenen
Worten von seinem erhabenen, weihevollen Schaffen
reden dürfen — wird seine Person, sein Wesen reiner
und klarer von seiner Zeit sich abheben lassen, wenn
die Zeit selbst uns etwas entrückter sein wird. Dann
wird man erst ganz seiner gottbegnadeten Kunst gerecht
werden können.
Nikolaus Gysis wurde geboren am I. März 1842
auf der Cykladeninsel Tinos in Griechenland. Von seinem
12. Lebensjahre an besuchte er die Kunstschule in Athen.
Nachdem er 7 Jahre dort eifrigen Studien obgelegen
hatte, wandte er sich mit Hilfe eines Stipendiums nach
München, das ihm zur zweiten Heimat und schliesslich
auch zur Stätte seines Todesschlafes werden sollte.
Sechs Jahre war er Schüler der Münchener Akademie
der bildenden Künste, darunter zwei Jahre in der Kom-
ponierklasse Pilotys, der ihn nicht minder als einen mit
aussergewöhnlichem Talent Begabten, als auch als einen
trefflichen Charakter hochschätzte. Damals entstanden
seine ersten Bilder, unter anderm die originelle, durch
ausserordentliche scharfe Charakteristik der Menschen-
und Tiertypen ausgezeichnete »Hundevisitation«, sein
»Joseph im Kerker« (eine Preisaufgabe der Akademie),
die »Waisenkinder« und dann das für die Frühzeit
unseres Meisters vielleicht charakteristischste Bild »Die
Siegesnachricht von 1871«, die »erste Verherrlichung«
des grossen Krieges, ein Bild, das wenn wir nicht irren,
ebenfalls aus einer Akademiekonkurrenz entsprang und
in seinen fein beobachteten Charakteren schon den künf-
tigen Meister ahnen lässt. Die malerische Weise dieser
frühen Werke geht auf die genossene Schule zurück, nach
dieser Seite hin verspüren wir noch wenig von indivi-
duellem Schaffen und welcher Umschwung sollte sich
gerade hier in Gysis vollziehen! Mehr als viele Worte
lehrt uns hier ein vergleichender Blick etwa auf die
Frühlingssymphonie.
Nachdem Gysis die Akademie absolviert hatte,
kehrte er in seine elterliche Heimat zurück, um bald
darauf eine Studienreise nach Kleinasien zu machen.
Das Ergebnis der zwei Jahre, die er noch in Griechen-
land verbrachte, waren meist Genrebilder wie »Der
Maler im Orient«, »Die Verlobung der Kinder in Griechen-
land«, dann das ergreifendste aller seiner Bilder »Die
Wallfahrt«. Wo hat jemals wieder Wehmut und Sehn-
sucht so überwältigend zu uns gesprochen als aus dem
thränenreichen Auge der alten Mutter, der die kranke
Tochter im Angesicht der schon vom Berge grüssenden

Wallfahrtskapelle im Schosse todesmüde zusammenbricht.
Noch zweimal behandelte Gysis mit einiger Variation
dasselbe Thema. Es hält schwer zu sagen, welchem der
drei Bilder der Preis zuzuerkennen ist. Nach drei Jahren
kehrte Gysis nach Athen zurück, vermählte sich mit
Artemis Nasos, die ihm nach München in die neue
Heimat folgte. Kaum 38 Jahre alt wurde er durch Er-
nennung zum Ehrenmitglied der Akademie ausgezeichnet,
zwei Jahre darauf, 1882, zum wirklichen Professor an
derselben ernannt. Medaillen und Orden dokumentieren,
wie hoch man seine Kunst schätzte.
Betrachten wir in kurzen Zügen, welchen Stoffge-
bieten sich des Meisters Pinsel vorzugsweise zuwandte.
Eine Gruppe lernten wir schon oben kennen, das Genre-
bild. Ohne sein Oeuvre dieser Art vervollständigen zu
wollen noch zu können, seien noch einige der köst-
lichsten Arbeiten genannt »Der bestrafte Hühnerdieb in
Smyrna« (Dresden), der »Carneval in Griechenland«
(kl. neuere Pinakothek), zwei von echt orientalischem
Leben erfüllte, in den Farben äusserst geschickte Bilder,
dann die der traurigen Geschichte seines Vaterlandes
entlehnte Episode der »heimlichen Schule«, ein alter
Pope, der in einem Keller ein paar Knaben Unterricht
erteilt entgegen dem Verbote der Türken, die auch
den Geist der Griechen knechten wollten. Man merkt
es hier deutlich, wie der Meister ein gut Stück von
seinem Ich in das Bild gelegt hat, er, der mit allen
Fasern seines Lebens an seiner Heimat, seinem unglück-
lichen Volke hing, trotzdem oder vielleicht gerade weil
er sofern von ihm weilen musste. Man betrachte seine
»Glorie von Psara«, die Nike, die auf ihre Tafel die
Namen der ruhmreichen Streiter mit unvergänglichen
Lettern einschreibt und man wird seine Begeisterung
für sein Vaterland mitempfinden. Ueberblickt man, was
seit Jahrzehnten auf dem Gebiete des Genrebildes ge-
schaffen wurde und noch geschaffen wird, jene bis zur
Abgeschmacktheit, ja zum Ekel dutzend- und hundert-
weise fabrizierten geistarmen Episoden mit ihrer Armut
an künstlerischer Auffassung und Mache, so sträubt man
sich, Gysis’ feinfühlige und fein vorgetragene Erzählungen
und Scenen dieser Kategorie einzureihen. Man glaubt
in Wahrheit, damit einen Frevel zu begehen. Schon
die Wahl der Themen bekundet sein ernstes Schaffen;
nicht ein einziges lässt uns gleichgiltig; zum wenigsten
interessiert uns der Stoff, wenn er uns auch nicht immer
erschüttert wie die »Wallfahrt«. Zu der strengen Wahl
des Stoffes tritt dann die alles fremde Urteil an Strenge
und Schärfe übertreffende Selbstkritik der Ausführung.
Gysis’ Bilder sind nicht sehr zahlreich, aber auch nicht
eines möchten wir entbehren, denn in jedes hat er etwas
Bestimmtes, etwas Neues hineinlegen wollen. Er war
keiner von jenen, die einen einmal glücklich gelungenen
Wurf aus Bequemlichkeit oder der Verkäuflichkeit halber
so und so oftmal wiederholten und Motive zu Tode
hetzten — nomina sunt odiosa; ihm war jedes neuge-
plante Bild, selbst das bescheidenste, anspruchsloseste,
eine ernste Arbeit, Zweck und Anregung zu neuem
 
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