138
Ein attisches Grabrelief.
(Hierzu Tafel I)
»Der Wind, der von den Gräbern der Alten
herweht, kommt mit Wohlgerüchen über einen Rosen-
hügel. Die Grabmäler sind herzlich und rührend und
stellen immer das Leben dar. Da ist ein Mann, der
neben seiner Frau aus einer Nische wie zu einem
Fenster heraussieht. Da stehen Vater und Mutter,
den Sohn in der Mitte, einander mit unaussprech-
licher Natürlichkeit anblickend. Hier reicht sich ein
Paar die Hände. Da ist kein geharnischter
Mann auf den Knieen, der eine fröhliche Auferstehung
erwartet. Der Künstler hat mit mehr oder weniger
Geschick nur die einfache Gegenwart der Menschen
hingestellt, ihre Existenz dadurch fortgesetzt und blei-
bend gemacht. Sie falten nicht die Hände, schauen
nicht in den Himmel, sondern sie sind hienieden, was
sie waren und was sie sind. Sie stehen beisammen,
nehmen Anteil aneinander, lieben sich, und das ist
in den Steinen sogar mit einer gewissen Handwerks-
unfähigkeit allerliebst ausgedrückt«.
So schrieb Goethe am 16. September 17S6 in
das Tagebuch seiner italienischen Reise, als er in
Verona eine kleine Sammlung nicht eben bedeuten-
der griechischer Grabreliefs gesehen hatte. Wir
kennen heute eine weit grössere Menge dieser Denk-
mäler ; *) darunter sind solche, die man ohne Zaudern
als Kunstwerke ersten Ranges bezeichnen darf. Und
dennoch kann man die ganze Gattung nicht treffen-
der schildern, als es Goethe gethan hat — mit ein-
fachen, schlichten Worten. Denn in diesen Erinne-
rungsmälern fehlt alle jene rauschende Pracht, die
die pomphaften Gräber der Renaissance und späterer
Epochen erfüllt, fehlt jede Hindeutung auf Vergeltung
oder auf Erlösung in einer anderen Welt, fehlt aber
auch die prunkende Eitelkeit, die sich auf den Fried-
höfen des modernen Italiens so unerträglich breit
macht in naturalistischen Porträts, vermischt mit über-
irdischen symbolischen Gestalten, Denkmälern, die nur
*) Die aus Attika stammenden sind gesammelt in der grossen
Publikation von Alexander’ Conze, Die attischen Grabreliefs, Berlin 1893 ff.
zu klar zeigen, dass den Italienern zwar die Bilder-
freudigkeit der Alten geblieben, aber der einfache
Sinn und der natürliche künstlerische Instinct gänzlich
abhanden gekommen sind.
Auch die Griechen wollten ein Abbild des Ver-
storbenen geben. Aber sie legten nicht Wert auf
die äusseren Zufälligkeiten, auf porträtmässige Wieder-
gabe. Sondern die Hauptsache war ihnen das innere
Wesen, und es genügten ihnen feste, aber doch un-
endlich variable Typen, der Bürger, der Krieger, die
Mutter, der Jüngling, das Mädchen, das Kind, oder
alle diese zusammen vereinigt in den klaren und ein-
fachen Beziehungen des Familienlebens, der gegen-
seitigen Liebe. Bei solchen Familienbildern kommt
in das ruhige Zusammensein häufig ein Zug von Trauer
und Schwermut hinein, wohl nicht, wie manche For-
scher meinen, als Andeutung eines trauernden Fort-
lebens nach dem Tode, seis im Hades, seis in Elysion,
sondern als eine sich unvermerkt einschleichende
künstlerische Stimmung, die dem Orte des Todes an-
gemessen ist. Aber auch ohne diese den modernen
Menschen vielleicht besonders ansprechende wehmütige
Note wirken diese Reliefs unendlich ergreifend. Nie-
mand wird im Nationalmuseum zu Athen in den
Sälen mit den Grabreliefs verweilen, ohne von der
Einfachheit, der Schlichtheit dieser Bilder im Inner-
sten bewegt zu sein. Das Reinmenschliche geht über
alle Zeiten hinweg unmittelbar zu Herzen wie am
ersten Tag.
Ein schönes Beispiel dieser Denkmälergattung
geben wir auf Taf. I dieses Heftes wieder. Es ist Be-
sitztum der kgl. Glyptothek zu München, für die es bei
der Helbing’schen Antikenauction des Jahres 1899 er-
worben wurde, *) und bildet eine höchst glückliche
Bereicherung dieser einzigen Sammlung, in der die
attischen Grabreliefs bisher kaum vertreten waren.
Es ist das Grabmal eines frühgestorbenen Mäd-
*) Furtwängler, Beschreibung der Glyptothek König Ludwigs I.
(München 1900), S. 170, Nr. 199. Bereits früher abgebildet bei Conze,
Attische Grabreliefs, Taf. 156, Nr. 815.
Ein attisches Grabrelief.
(Hierzu Tafel I)
»Der Wind, der von den Gräbern der Alten
herweht, kommt mit Wohlgerüchen über einen Rosen-
hügel. Die Grabmäler sind herzlich und rührend und
stellen immer das Leben dar. Da ist ein Mann, der
neben seiner Frau aus einer Nische wie zu einem
Fenster heraussieht. Da stehen Vater und Mutter,
den Sohn in der Mitte, einander mit unaussprech-
licher Natürlichkeit anblickend. Hier reicht sich ein
Paar die Hände. Da ist kein geharnischter
Mann auf den Knieen, der eine fröhliche Auferstehung
erwartet. Der Künstler hat mit mehr oder weniger
Geschick nur die einfache Gegenwart der Menschen
hingestellt, ihre Existenz dadurch fortgesetzt und blei-
bend gemacht. Sie falten nicht die Hände, schauen
nicht in den Himmel, sondern sie sind hienieden, was
sie waren und was sie sind. Sie stehen beisammen,
nehmen Anteil aneinander, lieben sich, und das ist
in den Steinen sogar mit einer gewissen Handwerks-
unfähigkeit allerliebst ausgedrückt«.
So schrieb Goethe am 16. September 17S6 in
das Tagebuch seiner italienischen Reise, als er in
Verona eine kleine Sammlung nicht eben bedeuten-
der griechischer Grabreliefs gesehen hatte. Wir
kennen heute eine weit grössere Menge dieser Denk-
mäler ; *) darunter sind solche, die man ohne Zaudern
als Kunstwerke ersten Ranges bezeichnen darf. Und
dennoch kann man die ganze Gattung nicht treffen-
der schildern, als es Goethe gethan hat — mit ein-
fachen, schlichten Worten. Denn in diesen Erinne-
rungsmälern fehlt alle jene rauschende Pracht, die
die pomphaften Gräber der Renaissance und späterer
Epochen erfüllt, fehlt jede Hindeutung auf Vergeltung
oder auf Erlösung in einer anderen Welt, fehlt aber
auch die prunkende Eitelkeit, die sich auf den Fried-
höfen des modernen Italiens so unerträglich breit
macht in naturalistischen Porträts, vermischt mit über-
irdischen symbolischen Gestalten, Denkmälern, die nur
*) Die aus Attika stammenden sind gesammelt in der grossen
Publikation von Alexander’ Conze, Die attischen Grabreliefs, Berlin 1893 ff.
zu klar zeigen, dass den Italienern zwar die Bilder-
freudigkeit der Alten geblieben, aber der einfache
Sinn und der natürliche künstlerische Instinct gänzlich
abhanden gekommen sind.
Auch die Griechen wollten ein Abbild des Ver-
storbenen geben. Aber sie legten nicht Wert auf
die äusseren Zufälligkeiten, auf porträtmässige Wieder-
gabe. Sondern die Hauptsache war ihnen das innere
Wesen, und es genügten ihnen feste, aber doch un-
endlich variable Typen, der Bürger, der Krieger, die
Mutter, der Jüngling, das Mädchen, das Kind, oder
alle diese zusammen vereinigt in den klaren und ein-
fachen Beziehungen des Familienlebens, der gegen-
seitigen Liebe. Bei solchen Familienbildern kommt
in das ruhige Zusammensein häufig ein Zug von Trauer
und Schwermut hinein, wohl nicht, wie manche For-
scher meinen, als Andeutung eines trauernden Fort-
lebens nach dem Tode, seis im Hades, seis in Elysion,
sondern als eine sich unvermerkt einschleichende
künstlerische Stimmung, die dem Orte des Todes an-
gemessen ist. Aber auch ohne diese den modernen
Menschen vielleicht besonders ansprechende wehmütige
Note wirken diese Reliefs unendlich ergreifend. Nie-
mand wird im Nationalmuseum zu Athen in den
Sälen mit den Grabreliefs verweilen, ohne von der
Einfachheit, der Schlichtheit dieser Bilder im Inner-
sten bewegt zu sein. Das Reinmenschliche geht über
alle Zeiten hinweg unmittelbar zu Herzen wie am
ersten Tag.
Ein schönes Beispiel dieser Denkmälergattung
geben wir auf Taf. I dieses Heftes wieder. Es ist Be-
sitztum der kgl. Glyptothek zu München, für die es bei
der Helbing’schen Antikenauction des Jahres 1899 er-
worben wurde, *) und bildet eine höchst glückliche
Bereicherung dieser einzigen Sammlung, in der die
attischen Grabreliefs bisher kaum vertreten waren.
Es ist das Grabmal eines frühgestorbenen Mäd-
*) Furtwängler, Beschreibung der Glyptothek König Ludwigs I.
(München 1900), S. 170, Nr. 199. Bereits früher abgebildet bei Conze,
Attische Grabreliefs, Taf. 156, Nr. 815.