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1889.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 9.
292
geprägte Gegensätze, nicht etwa nur statthaft,
sondern sogar nothwendig. Auch ein in ein-
heitlichem Stil ausgeführtes Kunstwerk kann
solche nicht entbehren. Es müssen hier tragende
und getragene, konstruktive und dekorative,
leichte und schwere, beleuchtete und beschattete
Formen, horizontale und vertikale, gerade und
gebogene Linien in künstlerische Wechselwir-
kung treten. Warum sollen nicht unter Um-
ständen auch Gegensätze, welche in der Ver-
schiedenheit der Stilrichtung begründet sind,
eine ästhetisch befriedigende Wirkung ausüben
können? Solche Ge-
gensätze müssen na-
türlich in richtigem
Mafse und an passen-
der Stelle einander
gegenübertreten. Man
wird zwar erwidern,
dafs die Kontraste,
welche auch ein in
nur einem Stil aufge-
führtes Bauwerk auf-
weist, doch einen ge-
wissen einheitlichen
Charakter zeigen und
schon deshalb geeig-
neter sind, einander
gegenüberzutreten als
die in verschiedenen
Stilarten begründeten
Gegensätze. Dieser
Einwand ist in ge-
wissem Grade, aber
nicht ganz berechtigt.
Denn volle harmo-
nische Einheit im
ästhetischen Sinne be-
sitzt unseres Erachtens in Bezug auf alle seine
Formen fast keine der historischen Stilarten.
Jeder Stil umfafst Elemente, welche mehr be-
sonderen äufseren Umständen und dem Zufall,
als einer ästhetischen Notwendigkeit ihre Auf-
nahme und Gestaltung verdanken.3)
Ohne hier im geringsten der Stilmengerei
bei Neubauten das Wort zu reden, darf doch
darauf hingewiesen werden, dafs thatsächlich
Fic
3) So ist, um nur ein Beispiel anzuführen, das der
Antike entnommene korinthische Kapital in Arkaden
des romanischen Stils Jahrhunderte hindurch angewendet,
obwohl dasselbe hier ästhetisch, selbst in romanischer
Umgestaltung, durchaus nicht oder wenigstens viel
unzählige, aus stilistisch verschiedenen Batt-
theilen zusammengesetzte Kirchen vorhanden
sind, welche eine ausserordentlich wohlthuende
Gesammtwirkung hervorrufen. Im Mittelalter
hat man nicht selten Stil- und Raumeinheit voll-
ständig aufser Acht gelassen und gerade hier-
durch Bauwerke von schönster "Wirkung und
reizvoller malerischer Gruppirung geschaffen.
Besonders häufig findet man beispielsweise ro-
manische Kirchen, deren beschränkte und sehr
schlecht erleuchtete Apsiden durch weiträumige
lichtvolle Chöre in gothischem Stil ersetzt worden
sind, ohne dafs auch
die übrigen Theile
einer baulichen Ver-
änderung unterzogen
wären. Die Wirkung
ist hier trotz oder
gerade wegen der
starken Gegensätze
(die hier in Bezug auf
den verschiedenen
Zweck beider Räume
erst recht erlaubt
sind) oft eine wunder-
bar schöne. Neben
der schweren ernsten
Gliederung eines nur
schwach erhellten ro-
manischen Kirchen-
schiffes treten die
leichten, aufstreben-
den Formen eines,
häufig noch auf
romanischer Krypta»
also erhöht liegenden
und weiträumigen g°"
thischen Chores dem
Beschauer desto glanzvoller entgegen, und
wenn dann beim Morgengottesdienste das Licht
durch die weiten Fenster des nach Osten ge'
richteten Chores4) bricht, die Glasmalereien in
den wärmsten Tönen erglühen, die an und fi-ir
sich schon eleganten leichten Formen der Gothik
mit einem Lichtmeer übergössen und von den
schweren, schwach erhellten Gliederungen des
Ostansicht.
weniger berechtigt ist als das von jener Form so U"'
endlich verschiedene, und doch in gleicher Weis
verwendete Würfelkapitäl.
4) Abgesehen von der kirchlichen Vorschrift soll
schon der Lichtwirkung wegen der Chor einer Je0
Kirche nach Osten gerichtet sein.
eden
1889.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 9.
292
geprägte Gegensätze, nicht etwa nur statthaft,
sondern sogar nothwendig. Auch ein in ein-
heitlichem Stil ausgeführtes Kunstwerk kann
solche nicht entbehren. Es müssen hier tragende
und getragene, konstruktive und dekorative,
leichte und schwere, beleuchtete und beschattete
Formen, horizontale und vertikale, gerade und
gebogene Linien in künstlerische Wechselwir-
kung treten. Warum sollen nicht unter Um-
ständen auch Gegensätze, welche in der Ver-
schiedenheit der Stilrichtung begründet sind,
eine ästhetisch befriedigende Wirkung ausüben
können? Solche Ge-
gensätze müssen na-
türlich in richtigem
Mafse und an passen-
der Stelle einander
gegenübertreten. Man
wird zwar erwidern,
dafs die Kontraste,
welche auch ein in
nur einem Stil aufge-
führtes Bauwerk auf-
weist, doch einen ge-
wissen einheitlichen
Charakter zeigen und
schon deshalb geeig-
neter sind, einander
gegenüberzutreten als
die in verschiedenen
Stilarten begründeten
Gegensätze. Dieser
Einwand ist in ge-
wissem Grade, aber
nicht ganz berechtigt.
Denn volle harmo-
nische Einheit im
ästhetischen Sinne be-
sitzt unseres Erachtens in Bezug auf alle seine
Formen fast keine der historischen Stilarten.
Jeder Stil umfafst Elemente, welche mehr be-
sonderen äufseren Umständen und dem Zufall,
als einer ästhetischen Notwendigkeit ihre Auf-
nahme und Gestaltung verdanken.3)
Ohne hier im geringsten der Stilmengerei
bei Neubauten das Wort zu reden, darf doch
darauf hingewiesen werden, dafs thatsächlich
Fic
3) So ist, um nur ein Beispiel anzuführen, das der
Antike entnommene korinthische Kapital in Arkaden
des romanischen Stils Jahrhunderte hindurch angewendet,
obwohl dasselbe hier ästhetisch, selbst in romanischer
Umgestaltung, durchaus nicht oder wenigstens viel
unzählige, aus stilistisch verschiedenen Batt-
theilen zusammengesetzte Kirchen vorhanden
sind, welche eine ausserordentlich wohlthuende
Gesammtwirkung hervorrufen. Im Mittelalter
hat man nicht selten Stil- und Raumeinheit voll-
ständig aufser Acht gelassen und gerade hier-
durch Bauwerke von schönster "Wirkung und
reizvoller malerischer Gruppirung geschaffen.
Besonders häufig findet man beispielsweise ro-
manische Kirchen, deren beschränkte und sehr
schlecht erleuchtete Apsiden durch weiträumige
lichtvolle Chöre in gothischem Stil ersetzt worden
sind, ohne dafs auch
die übrigen Theile
einer baulichen Ver-
änderung unterzogen
wären. Die Wirkung
ist hier trotz oder
gerade wegen der
starken Gegensätze
(die hier in Bezug auf
den verschiedenen
Zweck beider Räume
erst recht erlaubt
sind) oft eine wunder-
bar schöne. Neben
der schweren ernsten
Gliederung eines nur
schwach erhellten ro-
manischen Kirchen-
schiffes treten die
leichten, aufstreben-
den Formen eines,
häufig noch auf
romanischer Krypta»
also erhöht liegenden
und weiträumigen g°"
thischen Chores dem
Beschauer desto glanzvoller entgegen, und
wenn dann beim Morgengottesdienste das Licht
durch die weiten Fenster des nach Osten ge'
richteten Chores4) bricht, die Glasmalereien in
den wärmsten Tönen erglühen, die an und fi-ir
sich schon eleganten leichten Formen der Gothik
mit einem Lichtmeer übergössen und von den
schweren, schwach erhellten Gliederungen des
Ostansicht.
weniger berechtigt ist als das von jener Form so U"'
endlich verschiedene, und doch in gleicher Weis
verwendete Würfelkapitäl.
4) Abgesehen von der kirchlichen Vorschrift soll
schon der Lichtwirkung wegen der Chor einer Je0
Kirche nach Osten gerichtet sein.
eden