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dem Hute in der Hand; aber man nimmt
nicht neue, fortwirkende Antriebe mit
heim. Es ist als ginge man durch eine sehr
tüchtige Akademieausstellung. Tritt man
ins Freie, so drängen sich nicht eben ge-
sehene Kunstgestalten vor den deutungs-
frohen Geist. Nicht mit einem stürmischen
ästhetischen Erlebnis hat man zu thun, son-
dern man beginnt über die alte und neue
Kunstgeschichte Belgiens zu denken, und
gerät dabei ein wenig in die Geschichts-
philosophie.
Mit starkem Interesse blättert man in
einem Band alter Schriften von Theophile
Thore, der in der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts inParisunter dem Pseudonym
„Bürger" Kunstkritiken, vor allem über die
Maler der Fontainebleauer Schule schrieb
und aus dessen Arbeiten Klinkhardt und
Biermann nun Einiges in deutscher Über-
tragung haben erscheinen lassen. Vieles
ist veraltet und Manches scheint uns heute
falsch; aber man findet daneben auch
Sätze, die vor kurzem erst geschrieben
sein könnten. Zum Beispiel die folgenden,
die einem Bericht über die Weltausstellung
inLondon i 86a entnommen sind und deren
prinzipielle Formulierungen heute, nach
einem halben Jahrhundert, im Zeitalter
der Gemütsbündler und Werdandiideo-
logen noch sehr aktuell sind:
„Es giebt heutzutage in Europa drei
Landschaftsschulen: die Schule Frankreichs, an die sich
die Mehrzahl der belgischen und holländischen Land-
schafter anschliesst; die der Düsseldorfer, zu der viele
andre Deutsche und auch Schweizer gehören; die Eng-
lands, die ganz für sich besteht, mit ihrer furchtbaren
Lorgnette.
Ich bin mit Landschaftsmalern aus Düsseldorf auf
dem Rheindampfer gefahren: ,0 welch ein Schauspiel!
Giossartige Natur! Du erhebst den Menschengeist
bis zur Anschauung des Unendlichen! Erhabene Linien,
die sich in den Himmel verlieren! — O Goethe und
der Harz . . .' u. s. w. Alles sehr gut; aber nun
kehrt mein Landschafter in sein Atelier zurück und
komponiert seine Landschaft mit seinen Ideen und Re-
flexionen, selbst wenn er Lokalstudien gemacht hat.
Haben wir Berge? die brauchen wir. Einige Tannen
vom Sturm geknickt, die würden sich gut machen auf
dem Vordergrund: also bringen wir sie an. Ein See? ja,
mit Schatten darüber, das wirkt als Abschieber und ist
zugleich poetisch. Fängt man doch gleich zu träumen
an, wenn man auf dem Nachen über den See fährt.
SAMMLUNG ARNHOLD
Dann stellen wir vorn noch einen melancholischen
Hirten auf eine Felswand, und die Landschaft ist fertig.
Aber wie ist das traurig! wie leer und bedeutungslos,
trotz den Ansprüchen auf Grossartigkeit und Poesie.
Vor solchen kalten Bildern wird der Beschauer ebenso-
wenig gerührt, wie der Maler es war, als er sie zusam-
menstellte.
In England lässt der landschaftmalende Gentleman
nicht lange Haare über einen himmelblauen Mantel mit
rotgelben Sternen wallen, wie die Poeren von Düssel-
dorf, sondern macht zuerst seinen Überschlag, stattet
sich bequem aus mit kurzer Joppe, Schuhen ,Prinz
Albert' mit Lederriemen geschnürt, und seinem Lorg-
nettenetui; dann geht er botanisieren auf die Felder,
versichert sich, dass diese oder jene Pflanze spitze oder
abgerundete Blätter von dieser oder jener Form hat,
dass dies Blümchen solchen Kelch und so und soviel
Staubträger hat, dass es übrigens in der Natur sehr ge-
waltsames Rot, hartes Grün, unerbittliches Gelb, viel
Violett giebt, — dass Licht überall und für alles da ist.
Gottseidank! Dann nimmt er das Teleskop zu Hilfe, das
gf>.
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dem Hute in der Hand; aber man nimmt
nicht neue, fortwirkende Antriebe mit
heim. Es ist als ginge man durch eine sehr
tüchtige Akademieausstellung. Tritt man
ins Freie, so drängen sich nicht eben ge-
sehene Kunstgestalten vor den deutungs-
frohen Geist. Nicht mit einem stürmischen
ästhetischen Erlebnis hat man zu thun, son-
dern man beginnt über die alte und neue
Kunstgeschichte Belgiens zu denken, und
gerät dabei ein wenig in die Geschichts-
philosophie.
Mit starkem Interesse blättert man in
einem Band alter Schriften von Theophile
Thore, der in der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts inParisunter dem Pseudonym
„Bürger" Kunstkritiken, vor allem über die
Maler der Fontainebleauer Schule schrieb
und aus dessen Arbeiten Klinkhardt und
Biermann nun Einiges in deutscher Über-
tragung haben erscheinen lassen. Vieles
ist veraltet und Manches scheint uns heute
falsch; aber man findet daneben auch
Sätze, die vor kurzem erst geschrieben
sein könnten. Zum Beispiel die folgenden,
die einem Bericht über die Weltausstellung
inLondon i 86a entnommen sind und deren
prinzipielle Formulierungen heute, nach
einem halben Jahrhundert, im Zeitalter
der Gemütsbündler und Werdandiideo-
logen noch sehr aktuell sind:
„Es giebt heutzutage in Europa drei
Landschaftsschulen: die Schule Frankreichs, an die sich
die Mehrzahl der belgischen und holländischen Land-
schafter anschliesst; die der Düsseldorfer, zu der viele
andre Deutsche und auch Schweizer gehören; die Eng-
lands, die ganz für sich besteht, mit ihrer furchtbaren
Lorgnette.
Ich bin mit Landschaftsmalern aus Düsseldorf auf
dem Rheindampfer gefahren: ,0 welch ein Schauspiel!
Giossartige Natur! Du erhebst den Menschengeist
bis zur Anschauung des Unendlichen! Erhabene Linien,
die sich in den Himmel verlieren! — O Goethe und
der Harz . . .' u. s. w. Alles sehr gut; aber nun
kehrt mein Landschafter in sein Atelier zurück und
komponiert seine Landschaft mit seinen Ideen und Re-
flexionen, selbst wenn er Lokalstudien gemacht hat.
Haben wir Berge? die brauchen wir. Einige Tannen
vom Sturm geknickt, die würden sich gut machen auf
dem Vordergrund: also bringen wir sie an. Ein See? ja,
mit Schatten darüber, das wirkt als Abschieber und ist
zugleich poetisch. Fängt man doch gleich zu träumen
an, wenn man auf dem Nachen über den See fährt.
SAMMLUNG ARNHOLD
Dann stellen wir vorn noch einen melancholischen
Hirten auf eine Felswand, und die Landschaft ist fertig.
Aber wie ist das traurig! wie leer und bedeutungslos,
trotz den Ansprüchen auf Grossartigkeit und Poesie.
Vor solchen kalten Bildern wird der Beschauer ebenso-
wenig gerührt, wie der Maler es war, als er sie zusam-
menstellte.
In England lässt der landschaftmalende Gentleman
nicht lange Haare über einen himmelblauen Mantel mit
rotgelben Sternen wallen, wie die Poeren von Düssel-
dorf, sondern macht zuerst seinen Überschlag, stattet
sich bequem aus mit kurzer Joppe, Schuhen ,Prinz
Albert' mit Lederriemen geschnürt, und seinem Lorg-
nettenetui; dann geht er botanisieren auf die Felder,
versichert sich, dass diese oder jene Pflanze spitze oder
abgerundete Blätter von dieser oder jener Form hat,
dass dies Blümchen solchen Kelch und so und soviel
Staubträger hat, dass es übrigens in der Natur sehr ge-
waltsames Rot, hartes Grün, unerbittliches Gelb, viel
Violett giebt, — dass Licht überall und für alles da ist.
Gottseidank! Dann nimmt er das Teleskop zu Hilfe, das
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