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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 7.1909

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Heft 10
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Veth, Jan: Alexandrinische Porträtmalereien
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https://doi.org/10.11588/diglit.4599#0458

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KOPF EINES JÜNGLINGS MIT VOLLBART UND SCHNURRBART

SAMML. GRAF

nach Europa gebracht worden sind. Die im Besitze
der Erben Grafs grösstenteils zusammengebliebene
Kollektion dieser Tafeln bietet die schönsten bis jetzt
gefundenen Specimina jener bemerkenswerten Kunst.

Durch Besichtigung der Berliner Exemplare und
vollkommener noch durch die interessante Grafsche
Sammlung kann man sich also eine mehr oder we-
niger genaue Vorstellung machen von der Art einer
antiken Porträtmalerei, über deren Erzeugnisse,
neben den bekannten Werken der antiken Porträt-
plastik, auf anderen Wegen noch sehr wenig zu
unserer Kenntnis gelangt war.

Und nun möchte man leicht geneigt sein an-
zunehmen, dass bei den unvollkommenen Mitteln,
über die diese primitive Malerkunst zu verfügen
hatte, solche Bildnisse nach einer bestimmten Scha-
blone gemacht worden seien, dass die Aufmerk-
samkeit der Verfertiger noch nicht unbefangen
genug auf das Individuelle ihrer Sujets gerichtet

gewesen wäre, dass diese primitiven Maler noch
lediglich typisierend zu Werke gegangen seien und,
in einem Wort, ihre Arbeiten nicht Das bieten könn-
ten, was wir heute wirklich unter Porträtmalerei
verstehen. Doch würden wir uns mit solcher vor-
gefassten Meinung ganz und gar im Irrtum befinden.

Nicht mit einem, wenn auch dem Stil nach
vorzüglichen Typus, nicht mit einer nach irgend-
einem Kanon hergestellten Schablone, war dem K a
gedient, sondern die eigensten persönlichen Ge-
sichtsproportionen und Züge des Verstorbenen soll-
ten im Jenseits weiterleben.

So wurden diese Alexandrinischen Künstler in
Wirklichkeit äusserst scharfe physiognomische Be-
obachter und in so hohem Maasse Porträtmaler in der
Bedeutung, die wir heute dem Worte beilegen, dass,
sollte ein Wunder geschehen und sich aus den fest-
geschnürten Windeln der fast zweitausendjährigen,
ausgedörrten Mumie ein Künstler jener Zeit
plötzlich loslösen und auferstehend zu den Leben-
den wiederkehren, wir unsererseits uns keinen
Augenblick bedenken würden, einem solchen auf-
erstandenen Alexandriner das Abkonterfeien unserer
Angehörigen mit Liebe aufzutragen.

Nicht dass man gerade in jenen Bildnissen so
viel moderne Malfertigkeit anzuerkennen hätte. Die
Ausführung ist meistens ziemlich unbeholfen. Wir
würden keineswegs Ursache haben, jene Künstler
um ihr Malgerät zu beneiden. Aber die in Rede
stehenden Bildnisse zeichnen sich durch etwas Hö-
heres aus als durch eine angenehme Technik oder
ein lediglich hübsches oder gar schönes Aussehen.

Denn das besondere Verdienst, das wir bei einem
Porträt beanspruchen, wird doch wohl in erster
Linie darin bestehen, dass, wie es auch die religiöse
Aufgabe der Ägypter forderte, das eigene Leben der
dargestellten Persönlichkeit so scharf wie möglich
darin ausgeprägt sei. Und freilich ist die Kraft des
Charakterausdrucks in jenen Bildnissen erstaunlich.

Wenn wir uns nach den besten Stücken jener
sehr ungleichen Grafschen Sammlung den Alexan-
drinischen Porträtisten vorstellen dürfen, denken
wir uns ihn als einen Künstler, frei von angelernter
Konvention, unbehelligt vom Wunsche, seinen Mo-
dellen zu schmeicheln, ohne Neigung seine Bild-
nisse in irgendeinem Idealtypus unterzubringen,
sondern im Gegenteil als Jemand, der einen scharfen
Blick hat für die charakteristischen Formen und
Abweichungen in jedem besonderen Menschen-
antlitz und der solche persönlichen Züge, durch
die sein Vorbild sich von allen Anderen unter-

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