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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Zweite Allgemiene Sitzung
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Cohn, Jonas: Die Autonomie der Kunst und die Lage der gegenwärtigen Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0097

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Cohn, Die Autonomie der Kunst und die Lage der gegenwärtigen Kultur 91

Jonas Cohn:
Die Autonomie der Kunst und die Lage der gegenwärtigen
Kultur
Der Begriff der Autonomie ist uns aus der Kantischen Ethik geläufig.
Der sittliche Wille unterwirft sich dem Gesetze, das in ihm selbst begründet
liegt, ihm weder durch eine äußere Autorität auferlegt noch durch irgend
welche Nebengedanken und Rücksichten des Nutzens oder Genusses
empfohlen wird. Mit einer Rückerinnerung an den politischen Gebrauch
des Wortes (autonomer Staat) können wir es auf jedes Gebiet der Kultur
übertragen, das beansprucht, nur von seinen ihm eigentümlichen Werten
geleitet und nach ihnen beurteilt zu werden. So ist die Wissenschaft
autonom, wenn sie außer der Wahrheit kein Gebot, außer der Bedeutsam-
keit für das Ganze des Erkennens keine Motive der Stoffwahl anerkennt,
während nicht nur die Theologen des Mittelalters, sondern auch die unter
den Modernen, die den praktischen Nutzen für das Ziel der Forschung
halten, ihr einen heteronomen Charakter geben.
Die Analogie der verschiedenen Wert- und Kulturgebiete darf aber nur
Erläuterungsmittel sein, nicht an die Stelle der besonderen Untersuchung
jedes Einzelgebietes treten. Um genau zu bestimmen, was Autonomie der
Kunst bedeutet, muß man sie von ihren Voraussetzungen unterscheiden,
ohne deren Anerkennung sie unmöglich ist, mit denen allein sie aber noch
nicht gegeben ist. Daß das ästhetische Anschauen und das künstlerische
Schaffen eine es auszeichnende Eigenart haben, wird auch von solchen
zugegeben, die es durchaus anderen — etwa sittlichen — Zwecken unter-
ordnen, z. B. von Tolstoi. Worin diese Eigenart besteht, darüber herrscht
bekanntlich Streit, der meiner Überzeugung nach nicht geschlichtet werden
kann, solange man nach psychischen Vorgängen sucht, die nur bei
ästhetischem, und die bei allem ästhetischen Verhalten vorkommen. Viel-
mehr ist die Eigenart des Ästhetischen eine besondere Art der Wertung,
eine Wertung nach der Kraft des Eindrucks und der Einheit der Anschauung.
Diese Sonderart des ästhetischen Wertes schließt aber noch nicht den
Eigenwert des Ästhetischen ein. Vielmehr ist es an sich durchaus denkbar,
daß man die Hingabe an den reinen Eindruck, die Herausarbeitung der in
sich geschlossenen lebendigen Gestalt nur wertet, sofern sie im Dienste
bestimmter Ziele steht — eine Neigung dazu wird sich in kirchlichen,
besonders katholischen Kreisen leicht bemerken lassen. Es ist also die
Anerkennung des ästhetischen Eigenwertes zu unterscheiden von der
Erkenntnis der Eigenart des ästhetischen Wertes. Aber auch eine eigen-
tümliche und an sich, nicht wegen irgend eines Dienstes, den sie leistet,
anzuerkennende Wertart bedeutet noch nicht notwendig die Existenz einer
 
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