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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 17 (1. Juniheft 1904)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0254

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Lose Llätter.

Zus bäuarä von Reyserlings „früklingsopfer".

Vorbemerkung. Als vor kurzem die Literarische Gesellschaft in
Dresden Keyserlings „Frühlingsopfer" ihren Mitgliedern vorführte — ich
weiß nicht, ob ich da der einzige war, Ler sich fragte, warum eine so
ernste und schöne Dichtung nicht längst unsern Bühnen gewonnen sei. Möglich
ist immerhin, daß ich's war, jedenfalls begegnete man in den Rezensionen
am nächsten Tag wiederholt der Ansicht, daß sich's hier mehr um ein
„literarisches" Kunstprodukt, als um ein rechten Lebens vollcs Werk handle,
und auch von einer unverträglichen Mischung aus Naturalismus und Ro-
mantik darin wurde gesprochen. Und mir hatte seit langem kein Stück
so sehr den Eindruck eben von blutwarmer Lebensfülle gemacht, wie dieses!
Und wenn ich „Romantik" darin sah, so sah ich doch keine als Abguß
aus alter Literatur oder sonst woher küustlich herbeigeleitete „Romantik",
sondern eincn gleich dem Liebeszauber im Käthchcn „gemeinen Zauber der
Natur". Keyserling hatte in einer Seele zwischen Kind und Weib die
Pocsie in den dunkeln Tiefen gefühlt — das, schicn mir, war die „Ro-
mantik" im Stück. Jch fand sie von einem mitleidwarmeu Künstler mit
naturalistischer Technik ans Licht gehoben und gestaltet — von Bruch oder
Widerspruch bemerkte ich nichts dabei.

Wir sind im katholischen Litauen, auf dem Dorfe nah einem Wall-
sahrtsort, und in den Gcist der „Umwelt" blicken wir ticf sofort, als
der Vorhang sich hebt. Eine Stube voll betender, schreiender, schwatzender
Weiber: der Geistliche hat ebcn mit den Sterbsakramenten dic schwerkranke
Frau des lüderlichen und vertrunkncu Häuslers verseheu, dcr dort als un-
glücklicher Mann jammert, während der gemeine selbstische Patron aus ihm
sofort ans Licht tritt, als Weibervolk und Doktor und Priester die Stube
verlassen habcn. Nun lernen wir die Hauptperson kennen, scin uncheliches
Kind von einer Mutter, die er ins Wasser getrieben hat: die halbwüchsigc
Orti, die zwischen Hunger und Schlägcn hier im Dunkel hcranwächst, aus-
geschlossen von allem Licht, aber heiß im Herzen mit der Sehnsucht danach,
Orti, den „Grashupfer", den alle verachten und verschmähn. Nur die Kranke
war zu ihr gut, und gerade die, das Eegt ihr nun die alte Großmutter
ins Herz, gerade die kann durch Orti gerettet werden: die „schwarze Mutter
Gottes" hinter dem Wallfahrtsort in der Waldkapelle, mit der hat schon
mal eine eineu „Kontrakt" gemacht: Leben um Leben, will Orti also für
die andre in den Tod, viclleicht, sie nimmt's an. llnd dcr arme Gras-
hupfer geht zur Kapelle, und die Mutter Gottes nickt ihr zu, und so
ist's in Ordnung. Aber nun, nun macht sich's auf einem Bittgang, daß
der Jndrik freundlich gegen sie wird — ach, der Jndrik! Auf einmal ist
die Sonne da, auf einmal hat auch sie „ihr Gutes", hat auch sie „cineu
Jungen", wie die andern! Wir geben im folgenden die Szcncn wieder, wie
die beiden durch den Wald mitsammen heimwärts gchen, sie überquellend
in Seligkcit, er dumm, Protzig und gleichgültig, denn morgen wird er ja
den armcn Grashupfer schon wiedcr wegwerfen. Freilich, die Schatten
kommen schon, das alte Kräuterweib hat Orti an der Kapelle gesehn.
Abcr Orti drängt nun im Glücke mit aller Macht die Gedanken an ihr
Gelübde zurück, weiß sie doch, die Madonua wird sie bald abrufen. Dann
freilich, da sie verlassen wird, dann hat sie zum Sterben wieder Mut. Und

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