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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 2 (Novemberheft 1921)
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Schumann, Wolfgang: Vom Problem der Bildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0095

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senkung und nach dem Tragen des Leids der Welt, welches unerträgliche
Mitleiden, welche Bitterkeit ewigen Rngenügens? Sprechen die zahllosen
frühen Tode, die Geisteserkrankungen, die Selbstmorde, die Pessimismen
der Höchstgebildeten nicht eine furchtbare Sprache? Genug. Die Schalen
Für und Wider stehen, scheint mir, in gleicher Höhe. Bildung ist nicht
Glück schlechthin und unter allen Umständen, vollends nicht höchstes Glück.
Sie ist von Glück oder Unglück begleitet, oft und oft tief mit beiden ge--
heimnisvoll verkettet. Aber wer Anderen Bildung als den Weg zum
Glück, den sicheren Weg, anpreist, verspricht mehr, als er halten zu können
gewiß sein darf, setzt einmalige subjektive Erfahrung naiv als allgemein--
gültig und macht sich seltsamen Leichtsinns schuldig. Befragt, ob Glück der
Zweck, der übergeordnete Wert der Bildung ist, antwortet das Orakel der
Erfahrung, im Stile der Pythierin: überschreite den Halys, und du wirst
ein großes Reich erobern — und niemand weiß, ob er durch den Schritt
über die Schranken der Anbildung das Reich der Leiden oder das der Be--
glücktheit betritt.

Nichts andres bezeugt auch die Erfahrung über andre Werte, die mit
Bildung gegeben zu sein scheinen, über andre Ziele, zu denen der Weg der
Bildung führen mag. Wir sprechen nicht nur vom Glück der Bildung, ebenso
sicher auch von der Freiheit des Gebildeten; Freiheit versprechen wir
als das Lrgebnis des Prozesses der Bildung. And dies gewiß mit Recht.
Denn im Aufstieg zu den Höhen geistiger Kultur fühlen wir freilich die
Schranken des Wahns und des Aberglaubens fallen; die allzu primitiven
Gebote religiös-kirchlicher Dogmatik vergehen unter dem Hauch des Geistes,
der uns erfüllt, die „Kinderfibel" verliert ihre bindende Gewalt. Schale
Vergnügungen, einst eine zeit- und kraftraubende Lockung, fesseln nicht mehr
unsre Aufmerksamkeit, rohe Genüsse lernen wir durchschauen, und wir
machen uns von ihrer Gewalt über unsre Natur frei. Dumpfes Dahin-
leben und Lrdulden des Schicksals weicht der freien Wahl der Lebens-
umstände und des Handelns. Gewiß, so ist es. Aber auch hier übersehen
wir allzuleicht die andere Seite. Binden uns nicht mehr Katechismen und
Autoritäten, so unterwirft sich der gebildete Geist bald selbsterkannten echten
oder vermeintlichen „Gesetzen"; er ist verhaftet dem als wahr, als wertvoll
Erkannten. Mit der Freiheit des Pöbels hat er die Freiheit kindlich-froher
Entschließung verloren, mit der dumpfen Gebundenheit des Niederen die
von Äberlieferung und Sitte ihm einst eingegebene Sicherheit der Wahl.
Nnd kennen wir nicht den, der frei wurde von aller sittlichen Gebundenheit,
aber dafür Sklave seiner tierischen Natur? Kennen wir nicht den Gebilde-
ten, der sich zu hundert Taten freier Menschlichkeit und kluger Menschen-
hilfe innerlich aufgerufen fühlt, aber die Freiheit der Entschließung gänz-
lich verlor? Gar uicht zu reden vou der unsäglichen Verstrickung in Pro-
bleme und Fragestellungen, die solche Bildung bedeuten kann, wenn sie uns
dämonisch ergreift und aller Freiheit zum Trotz unsre Lebenskräfte ver-
zehrt, uns der Familie, des „Lebenkönnens", der tzeiterkeit entwöhnt und
saustische Kräfte in uns entbindet. Was ist's mit der „Freiheit" des Grüb-
lers? Und war Ignaz Loyola nicht „gebildet", der uns Einseitigen so
unfrei-gebunden erscheint?

Wiederum stehen die Wagschalen gleich. Auf allen Stufen verknüpft
sich Bildung in hundert Arten mit jedem Grad und jeder Art von Freiheit.
Aber kein Sterblicher kann bürgen, daß Bildung schlechthin mehr Freiheit
mit sich bringe, als dem Ungebildeten eignen kann.

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