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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 2 (Novemberheft 1921)
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Troeltsch, Ernst: Auf dem Weg zur neuen Mitte: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0117

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wirklichung solcher sozialistischer Ideale dienstbar machen, die sie bisher
als in seinem Rahmen unverwirklichbar betrachtet und daher einer völlig
neuen, rein proletarisch bestimmten Gesellschaftsordnung der Zukunft zu--
geschrieben hatte. Das hört sich zum Teil freilich sehr verwegen und un--
realistisch an, wird aber doch eben immer in dem Rahmen der Staatsmög--
lichkeiten und der durch die innere Macht der Situation sich durchsetzenden
Wirtschaftsorganisation bleiben. Man wird in alle dem vor allem das
Werk des tzerrn Ebert, dieses klugen, energischen und besonnenen politischen
Führers erkennen müssen, der die Vorteile geräuschlosen Arbeitens sehr
genau kennt und sehr viel mehr tut, als die Öffentlichkeit weijz. Neulich
meinte ein rechts stehender tzerr, man könne tzerrn Lbert ruhig wieder
wählen; er benehme sich anständig und tue so gut wie gar nichts, sei also
ungefährlich; man selber habe ja doch keinen Kandidaten. Welche Verken-
nung! Herr Ebert ist persönlich gar nicht so leicht zu behandeln, ist aber
unter allen Umständen ein Staatsmann. Das zeigt sich vor allem an der
Vorbereitung und dem Verlauf dieses Parteitages. Wenn die Sozial--
demokratie nunjetztnachträglich die Einbeziehung der Nnabhängigen fordert,
so ist das vielleicht teils taktische Rücksicht auf die Berliner Stadtverord--
neten-Wahlen, teils die Opposition der in Görlitz stumm gebliebenen Kreise.
Iedenfalls hofft man hier, daß daran die Rettungsaktion nicht scheitert.
Es liegt zu sehr>in der Folge der seit dem Ministerium Prinz Max ver--
folgten Politik, als daß man nicht glauben sollte, die Konsequenz werde
auch über die gegenwärtige Stockung hinausführen.

Auf der anderen Seite hat auch die Deutsche Volkspartei die Not der
Lags und die Notwendigkeit der Mittebildung eingesehen. Mit ihr würde
ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen und sinanziellen Intelligenz
und der in ihr vertretenen Kreise an der Regierung teilnehmen und ein
Druck auf die Ordnung der allmählich ganz verzweifelten Finanzlage aus-
geübt werden können; freilich liegen da auch die Konfliktsstoffe gegenüber
der Sozialdemokratie. Auch ist sie ihrer Wähler, die sie bisher wesentlich
mit einem dem der Deutsch-Nationalen verwandten Wortschatze bei der
Stange gehalten hatte, nicht hinreichend sicher und macht deshalb ähnliche
taktische Züge mit der Forderung des Sturzes von Wirth wie die Sozial-
demokratie mit derjenigen der Einbeziehung der Nnabhängigen. In der
Hauptsache wird man aber auch hier jetzt überzeugt sein von der Nnmöglich-
keit, anders als auf dem Boden der Republik iunere und vor allem aus-
wärtige Verhältnisse regeln zu können. Nur fehlt hier die starke Führung.
die wir dort beobachten, und ist in der Tat die innere Struktur der Partei
schwierig. Gerade ihr Vorzug, die Vertretung der industriellen Intelligenz,
macht sie, wie Stegerwald neulich hervorhob, unfähig zu starker Popu-
larität. Sie muß also sür den letzteren Zweck zu agitatorischen Mitteln
greifen, die ihr andrerseits eine Politik der Mitte erschweren. Auch sind
manche der Führer geneigt, eine ihnen noch günstigere Situation abzu-
warten, wo das sozialistische Regiment noch mehr abgewirtschaftet hätte
und das Gewicht der Wirtschaftsführer ein noch stärkeres sein würde.
Es ist die bekannte Baissespekulation, daß es uns noch viel schlechter gehen
müsse, bis der Umschlag kommt. Dieses Hinausschiebeu ist freilich für
diese tzerren leichter zu ertragen, als für den von oben nnd unten er-
drückten Mittelstand und die verarmte Bildungsschicht.

Die neue Koalition wird zustande kommen, wenn nicht die oberschlesische
Frage mit einer neuen Katastrophe von außen her endet, worüber die

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