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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 1.1900/​1901

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Nr. 3
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Bulle, Heinrich: Ein attisches Grabrelief
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https://doi.org/10.11588/diglit.47723#0164

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140

für ein Kindergrab oder ein Weihgeschenk für das
Heiligtum einer Göttin war. Die Jungfrauen pflegten
vor der Ehe ihr Spielzeug der Artemis zu weihen
und es konnte wohl auch eine thönerne Nachbildung
an Stelle des Gegenstandes treten. In sehr netter,
antik unbefangener Weise hat der Thonbildner, um
den Inhalt des Sackes zu zeigen, in der Mitte ein
Stück der Wand aufgeklappt: vier Knöchel liegen in
vier verschiedenen Würfen darin.
Rechts von dem Säckchen hängt ein winkelartiger
Gegenstand, dessen Erklärung bisher nicht völlig be-
friedigend gelungen ist. Am ähnlichsten sind ihm
gewisse kleine Geräte, die in verschiedenen Grössen
vorkommen und meistens die Form eines umgeboge-
nen Daumens haben. In Pompeji ist neben einem
anscheinend weiblichen jugendlichen Skelett ein solches
Ding in einer flachen Marmorschale liegend gefunden
worden, was wir in Fig. 3 abbilden. Die Geräte
müssen zum Zerreiben von irgend etwas gedient haben.
In manchen Fällen war das sicher Schminke, da anderes
Toilettengerät daneben abgebildet ist. Für ein Kind
wie unser »Püppchen« wäre nun freilich das Schminken
wohl noch nicht angebracht. Doch mögen derartige
Schalen mit Farbenreibern darin zum Kinderspielzeug
gehört haben. Stören würde bei dieser Erklärung
nur die Grösse des Gegenstandes in Verhältnis zu
der des Kindes. Doch scheint auch der Sack etwas
reichlich gross geraten, sodass dies kein entscheiden-
des Hindernis für die Deutung wäre.
Das ganze Bildfeld wird eingeschlossen von zwei
Pfeilern mit kleinem Kapitäl, die eine Querleiste und
die flüchtige Nachbildung eines Tempelgiebels tragen.
Die Eckverzierungen sind abgebrochen. Diese nischen-
artige Form hat sich allmählich aus einfacheren Um-
rahmungen entwickelt. Man kann hiernach und nach
sonstigen Stilkriterien das Relief in das IV. Jahrhundert
v. Chr. datieren, die Zeit der Hauptblüte der attischen
Grabreliefs, der im Jahre 312 v. Chr. ein jähes Ende
dadurch bereitet wurde, dass von Staats wegen der
übermässige Luxus an den Gräbern verboten und nur
noch ganz einfache Platten und Säulchen erlaubt wurden.
Unser Relief ist, wie die Mehrzahl der griechischen
Grabmäler, Werkstattarbeit, nicht die Leistung eines
grossen Meisters. Aber doch welche Leichtigkeit, Sicher-
heit und Unbefangenheit der Meisselführung! Da ist
nichts von der empfindungsleeren, ängstlichen und man
kann beinahe sagen widerlichen Sorgfalt, mit der die

heutigen italienischen scalpellini Gewänder und Spitzen-
tücher meisseln. Gewandfalten und Haar sind flott
und skizzenhaft angelegt, ohne Durcharbeitung der
Einzelheiten, mehr auf einen malerischen Gesamtein-
druck hin, und doch ohne jede Unklarheit, wie sie
in der zeitgenössischen Production, wo etwas ähnliches
angestrebt wird, auch bei gefeierten Meistern die fast
regelmässige Begleiterscheinung ist. Die dicken Aerm-
chen und das Gesicht mit der kindlich runden Stirn
und dem kleinen Näschen sind etwas mehr geglättet,
um den Kontrast des weichen Fleisches gegen die
rauheren Stoffe herauszubringen. Und das ist so gut
gelungen, dass wir die verlorene Färbung, die das
noch deutlicher machte, kaum vermissen.
Wenn Goethe bei den Veroneser Grabreliefs von
»einer gewissen Handwerksunfähigkeit« sprach, so trifft
das bei den griechischen Arbeiten des V. und IV. Jahr-
hunderts v. Chr. nur auf die allerwenigsten Stücke zu.
Was wir bei unserem Relief und bei der grössten An-
zahl der Durchschnittsarbeiten bewundern, bewundern
namentlich im Vergleich mit unserer Zeit und Kunst-
übung, das ist die eminente Fähigkeit im Handwerk-
lichen. Auch wenn gewöhnliche Steinmetze einen un-
endlich oft gebrauchten Typus wiederholen, so über-
tragen sie nie sklavisch, sondern arbeiten frei in den
Stein hinein, immer mit einer gewissen Selbständigkeit.
Einer unserer bedeutendsten Bildhauer hat mir einmal
gesagt, dass sich ihm die künstlerische Sicherheit in
den griechischen Steinmetzarbeiten der mittleren und
selbst der ganz flüchtigen Qualität nur dadurch erkläre,
dass es Sklavenarbeit sei; freie Arbeiter hätten bei
solchen k'ähigkeiten und solchem Können über den
Rahmen des Handwerklichen hinaus nach Entfaltung
ihrer Individualität gestrebt und streben müssen. Aber
vielleicht ist die Erklärung nicht nur in äusserlichen
Verhältnissen zu suchen. Der antike Künstler oder
Handwerker — das Altertum kennt keinen Unterschied
zwischen beiden — stand in ganz anderer Weise als
der moderne im Banne oder vielleicht besser gesagt
in der Schule der Tradition. Nur die allerbegabtesten
Individualitäten waren stark genug, die Entwicklung
einen Schritt vorwärts zu reissen, durch neue Ideen,
durch die Schöpfung neuer Typen. Die mittleren und
kleinen blieben trotz allen Könnens in den sicheren
Bahnen, die die Grossen vorgezeichnet, und diese
Selbstbeschränkung war ihre Stärke.
München. Dr. Heinrich Bulle.


Figur 3.
 
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