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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 1.1900/​1901

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Nr. 10
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Haenel, Erich: Internationale Kunstausstellung Dresden 1901, 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.47723#0456

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415

Künstler, der mit einem starken Zug für das Karikaturisti-
sche einhervorragendes, realistischesTalent bei ungemein
breiter, saftiger Technik vereinigt. Sein Selbstbildnis
gemahnt in der Feinheit der Detailbehandlung und der
stupenden Ausdruckskraft der Gesichtszüge an die
italienischen Meister des Quattrocento; bei anderen
Büsten wieder, wie denen von Velazquez und Frans
Hals, scheint er bei der Kunst dieser Meister selbst
sich die Anregung und den Stil geholt zu haben. Als
ganz besonders feine Gestaltungen seien unter der Menge
des Vortrefflichen die „Lächelnde Nonne“ und das
Brustbild eines eingeschlafenen Kindes hervorgehoben.
Gardets temperamentvolle Löwen und Tiger reichen an
Fremiets beste Arbeiten heran, während Saint Marceaux
sich in seiner kühn komponierten Gruppe, „Unsere
Geschicke“ in Rodins Bahnen bewegt; der Anblick
der drei dahinsausenden Gestalten hat indessen wirklich
etwas Packendes, was nur durch volle Beherrschung
der körperlichen Formen erreicht werden konnte. An
Charpentiers Kolossalrelief „Die Bäcker“, das aus gla-
sierten Kacheln zusammengesetzt ist, erfreut die Ein-
fachheit der Komposition und der gesunde Stil. Beides
aber rechtfertigt nicht die Grösse des Massstabs. Unter
den Belgiern, und, es muss doch wieder gesagt werden,
unter den Plastikern überhaupt steht Meunier an erster
Stelle. Wer nicht für die antikische Grossheit seines
Lastträgers empfänglich ist, der weiss nicht, was echte
Kunst bedeutet. Der königliche Adel dieser Gestalt lässt
alles andere daneben klein erscheinen. Auch die pracht-
volle „Tränke“ ist ein Werk von einer ganz einzigen
Monumentalität. Charliers Lotse verrät ebenso wie die
Gruppe „Mutterschmerz“ ein reifes Stilgefühl; Du Bois’
Damenfigur ist bekannt und bedeutender als seine Klein-
plastik; Samuel bringt eine ausgezeichnete, lebensvolle
Portraitbüste, während Vanderstappens übermagre, ver-
quälte Akte, alles Studien zu einem „Denkmal der
Ewigen Güte“ etwas vom Geiste des unglücklichen
Minne atmen. In Injalberts Marmorvase mit Nymphen
und Satyrn und Verlets Brunnen für die Stadt Bordeaux
pulsiert echt französisches Blut, sodass man auch die
Anlehnung an das Barock bei der Fülle frischen Tem-
peraments gern in Kauf nimmt. Den Amerikaner Saint
Gaudens lernt man als einen etwas trocken, aber ernst
schaffenden Künstler kennen, und in des Russen Trou-
betzkoy meist kleinplastischen Arbeiten bricht sich eine
ganz neue, aristokratisch-elegante Nüance des Natura-

lismus mit dem grössten Erfolge Bahn. Ihm zur Seite
steht von den Franzosen Dejean mit seinen wunder-
voll modern empfundenen Pariserinnen; Carabin gibt
die kühnsten Rhythmen der Serpentintänzerinnen mit
vollendeter Grazie wieder; Dampt, Riviere - Theodore,
auch Vallgren und der haupsächlich in Plaketten thätige
Yencesse zeigen, unter vielem Tüchtigen, manche be-
sondere Feinheit. Von den Medailleuren würden wir
gern ausführlich sprechen, in unsrer Uebersicht können
aber nur der Altmeister Ponscarme, dann Chaplain,
Charpentier, dessen Bronzegruppe „die fliehende Stunde“
eine überrasche Stilwandlung gegenüber den „Bäckern“
aufweist, Cazin, mit seinen meisterhaften Portraitköpfen,
und last not least Roty berührt werden. Bei den Italienern
regt sich hier und da ein ehrlicher Naturalismus: so
frappiert Bazzaros „Senectus ipsa est morbus“ durch
den Ernst der Auffassung, während Canonica (Turin)
in seinen Portraitbüsten die Feinheit des Ausdrucks
mit adäquaten Mitteln wiedergibt. Rossi (Neapel) und
Marsili (Venedig) halten sich kaum auf derselben künst-
lerischen Höhe wie Bayes (London), Ringel d’Illzach und
Hansen-Jakobsen aus Paris. Das Denkmal des Dichters
Oehlenschläger von Schultz in Kopenhagen ist von
eindrucksvoller Schlichtheit, seines Landsmanns Sinding
Holzstatue „Die Aelteste des Geschlechts“ redet in
ihrer herben Geschlossenheit eine ergreifende Sprache.
Von den Ungarn erschien nur Ede Teles (Budapest),
und wir freuen uns seiner Bekanntschaft; sind doch
seine aus dem Volksleben gegriffenen Typen mit grosser
Frische und Eigenart wiedergegeben. Soweit das Aus-
land. In dem durchgehenden Zug seines Schaffens,
dem mehr oder weniger individuell gefärbten Naturalis-
mus gehen die Grenzen des nationalen Elementes nicht
verloren. Bei den Franzosen herrscht die grösste Viel-
seitigkeit und das stärkste Können, bei den Belgiern
bringt das Festhalten an die Stammeseigenart die
schönsten Erfolge. Ueber alle hinweg ragt, schon im
19. Jahrhundert bewundert, jetzt aber auf unbestritten
einsamer Höhe, Constantin Meunier, der Olympier.
Schon nagen Alter und Krankeit an ihm, aber sein
Schaffen wird nur immer freier, immer ewiger. Möge
das 20. Jahrhundert, an dessen Schwelle sein Lastträger
uns grüsst, seines Geistes voll sein. Denn er vollbringt
das grosse Wunder: er weist uns den Boden auf dem
wir stehen und hebt uns zugleich empor, in dem einzelnen
Menschen uns die ganze Menschheit zeigend.
 
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