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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 1.1900/​1901

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Nr. 11
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Krauss, Ingo: Das Portrait Dantes, 1, Dantes Portrait in der litterarischen Ueberlieferung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47723#0491

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456

von Wert sein könnte. Villani schildert die politische
Entwicklung seiner grossen Vaterstadt. Dante be-
schäftigte ihn also nur soweit, als er in die Geschichte
von Florenz eingegriffen hatte1).
Erst Giovanni Boccaccio befasst sich in seiner
„vita di Dante“ auch mit der äusseren Erscheinung des
Dichters in eingehender Weise. Die Streitfrage, ob der
„vita intera“ oder dem „compendio“ der Vorzug zu
geben sei, ist für unseren Gegenstand bedeutungslos,
da beide Texte hinsichtlich der „fatezze, usanze e
costumi di Dante“ inhaltlich übereinstimmen. Boccaccio
schreibt'2): „Fu adunche questo nostro poeta di mediocre
statura, e poi ehe alla matura etä fu pervenuto, andö
alquanto curvetto, e era il suo andare grave e mansueto.
d’onestissimi panni sempre vestito in quell’ abito ehe
era alla sua maturitä convenevole. II suo volto fu
lungo, e’l naso aquilino, egli occhi anzi grossi ehe
piccioli, le mascelle grandi, e dal labro di sotto era
quel di sopra avanzato; e il colore era bruno, e i capelli
e la barba spessi, neri e crespi, e sempre nella faccia
malinconico e pensoso.“
Um die Glaubwürdigkeit dieser Zeilen zu prüfen,
ist es erforderlich, den Quellen des Boccaccio nachzu-
gehen.
Am 23. Oktober 1373 wurde er von der Stadt
Florenz zum öffentlichen Erklärer der Divina Commedia
berufen3). Dieser Umstand scheint zu der Annahme
zu berechtigen, dass die Florentiner eine ausgezeichnete
Kenntnis Dantes von ihm erwarteten. Für den Ursprung
dieses Wissens gibt es nur drei Möglichkeiten, ein per-
sönliches Zusammentreffen mit dem Dichter in Ravenna,
die Benutzung schriftlicher Vorlagen und die mündliche
Ueberlieferung. Die erste Möglichkeit hat auch Ver-
theidiger gefunden4), ist aber als irrig zurückzuweisen.
Als Dante starb (1321) war Boccaccio 8 Jahre alt
(geb. 1313). Die Entscheidung der Frage nach seinem
Geburtsort, ob Paris, Florenz oder Certaldo, ist für diese
Erörterung ohne Wert. Sowohl Filippo Villani5) wie
Giannozzo Manetti6) berichten, dass er in der Kindheit
den Unterricht des Florentiner Grammatikers Giovanni
da Strada genossen habe, Manetti mit dem ausdrück-
lichen Zusatze: florentie“. Nirgends ist erwähnt, dass
er zu Dantes Lebzeiten, also zwischen 13137) ungefähr
und dem 14. September 1321 in Ravenna gewesen sei.
Hätte Boccaccio den grossen Verbanten mit eigenen
Augen noch gesehen und eine Erinnerung daran auf-
bewahrt, er würde sicherlich bei seiner glühenden Ver-
ehrung für denselben nicht unterlassen haben, dies für
*) Antonio Puccis „Centiloquio“ kann hier ebensowenig in Betracht
kommen, da dieses Werk nur eine Wiederholung Giov. Villanis ist.
2) Vita di Dante scritta d. G. Bocc. ed. Franc. Macri-Leone. Fir.
1888. p. 43. Zum Vergleiche sei auch die einschlägige Stelle aus dem
compendio wiedergegeben. La vita di D. Testo del cosl detto compendio
attrib. a G. B. — E. Rostagno Bologna 1899. p. 33. „Fu il nostro Poeta
di mediocre statura, ed ebbe il volto lungo et il naso aquilino, le mascelle
grandi, et il labbro di sotto proteso tanto, ehe alquanto quel di sopra
avanzava; nelle spalle alquanto curvo, e gli occhi anzi grossi ehe piccioli,
te il colore bruno, et i capelli e la barba spessi, crespi e neri, e sempre
nel viso malinconico e. pensoso“.
3) Scheffer-Boichorst. Aus Dantes Verbannung. Strassburg 1882.
p. 207.
4) F. X. Kraus. Dantes Leben, p. 159.
s) Fil. Villani. Vitae Dantis Petrarchae et Boccaccii scriptae ex
codice inedito Barberiniano. Fir. 1826. p. 69. — Ph. Vill. Liber de civ.
Flor. fam. civ. Galetti. Fir. 1847. p. 17. — Fil. Vill. Le vite etc. Fir.
1847. p. 16.
e) Gian. Manetti. Un antico manoscritto latino etc. Mauro Granata.
Messina 1838. p. 138. — G. Man. ed. Mehlis. Fir. 1747.
’) Scheffer-Boichorst. Loc. cit. p. 179—190.

ihn bedeutsame Ereignis zu betonen. Doch auch in
diesem Fall würde in Anbetracht der Jugend des Augen-
zeugen der Gewinn für die Forschung kein hervorragend
grosser sein.
An schriftlichen Quellen lagen Boccaccio, soviel
wir ermitteln können, nur die Werke und einige Briefe
Dantes vor. Sowohl Giovanni Villanis „Cronica“ und
Antonio Puccis „Centiloquio“ hat er nicht benutzt1).
Des letzteren Schrift ist übrigens nur im Grossen und
Ganzen die in Verse umgegossene Chronik Villanis.
Aus beiden konnte Boccaccio für die uns beschäftigende
Frage nichts entnehmen. Auch Dante konnte ihm, wie
dargelegt, hierfür nicht viel bieten.
Dagegen stand ihm eine verhältnismässig reiche
Tradition zur Verfügung. In späteren Jahren war er
mehrfach in Ravenna. Das erste Mal weilte er dort
gegen Ende des Jahres 13462). Ein Auftrag der Stadt
Florenz führte ihn 1350 wiederum dorthin. Er sollte
der Nonne Beatrice, der Tochter Dantes, 10 Goldgulden
überbringen3). Allerdings ist die Existenz dieser Beatrice
Alighieri angezweifelt worden4). Ausserdem sahen ihn
die Jahre 1353 und 1366 in Ravennas Mauern5). Seine
vita di Dante ist aber erst nach 1359 vollendet worden6).
In Ravenna konnte er mit Leichtigkeit Erkundigungen über
Dante einziehen. Äusser der Beatrice Alighieri lebten
dort noch Schüler und Freunde des Dichters. In der
That beruft sich Boccaccio auf den Ravennaten Piero
Giardini7) als Quelle und stand in Verbindung mit
Menghino Mezzani und Dino Perini8 9).
Auch in Florenz konnte er Gewährsmänner finden.
Nach Zurücknahme der Erlasse gegen Dantes Familie,
1342, hatte Jacopo Alighieri die eingezogenen Be-
sitzungen des Vaters zurückgekauft. Er starb aber
schon 1349°). Wohl möglich ist auch, dass die andere
Tochter Dantes, Antonia, noch am Leben war. Im
November 1332 wurde sie noch erwähnt10). Bekannt
ist, dass Boccaccio im Hause von Dantes Neffen,
Andrea Poggi, als Freund verkehrte11). In seinem
Kommentar zur Divina Commedia berichtet er, dass
er durch diesen Verwandten des Dichters, dessen
Züge denen des Oheims in wunderbarer Weise
glichen, manche Auskunft über die „costumi e modi“
des grossen Alighieri erhalten habe'2 13). Wie weit jedoch
diese Angaben als zuverlässig anzusehen sind, muss
dahingestellt bleiben. Es ist nicht zu ermitteln, ob
Andrea Poggi den Bruder seiner Mutter noch persön-
lich gekannt hat, oder sein Wissen nur in der Familien-
tradition beruhte. Franz Xaver Kraus erzählt überdies18).
Andrea sei ein „Idiota“ gewesen. Dass diese Bezeichnung
nicht in ihrer schärfsten Bedeutung genommen werden
darf, dafür scheint die Freundschaft mit dem geist-
reichen Verfasser des Decamerone zu sprechen.
Auf jeden Fall ist die mündliche Ueberlieferung
eine Quelle, die leicht getrübt wird und nur mit Vor-
l) Siehe auch Scheffer-Boichorst. Loc. cit. p. 188.
s) Scheffer-Boichorst. p. 186.
3) Ebenda, p. 186, 207, 49.
9 J. A. Scartazzini. Dante. Geisteshelden. Berlin 1896.
®) Scheffer-Boichorst. p. 186.
6) Ebenda, p. 186, 203-207.
7) Ebenda, p. 40. 183.
8) Ebenda, p. 43.
9) Scartazzini. Dante.
’°) Ebenda.
u) Scheffer-Boichorst. p. 201.
12) II comento di Giov. Boccaccio. Milanesi. Fir. 1863. II. p. 129.
13) F. X. Kraus. Dantes Leben. Berlin 1897. p. 30.
 
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