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Sondheim, Moriz
Gesammelte Schriften: Buchkunde, Bibliographie, Literatur, Kunst u.a. — Frankfurt a.M., 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.34388#0029

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dem französischsten der Franzosen machen, schrieb er über
Alles, was er verstand und nicht verstand. Er vollendete Trauer-
spiele innerhalb einer Woche und Lustspiele binnen zwei Tagen;
er schrieb Geschichte, ohne ihre Quellen zu kennen; er legte
die Bibel aus, ohne den Urtext zu verstehen; er kritisirte Dante,
ohne ihn ganz gelesen zu haben.
Als ihm die Divina Commedia durch Zufall in die Hände
fiel, zog ihn der Haß gegen das Papstthum an, der darin aus-
gesprochen ist. „Un poeme oü Fon met des papes en enfer,
reveille beaucoup l'attention." Doch als er weiter las, wuchs
sein Mißbehagen immer mehr. Vergebens suchte er das Werk
mit einem ihm bekannten Gedichte zu vergleichen; es war
einzig in seiner Art, weder nach den Regeln des Aristoteles
gebaut, noch nach den Vorschriften Boileau's. „Tout cela est-
il dans le style comique? Non. Tout est-il dans le style heroi-
que? Non. Dans quel goüt est donc ce poeme? Dans un
goüt bizarre." Diese Worte zeigen deutlich, von welchem be-
schränkten Standpunkte aus Voltaire Dante betrachtete. Er
wollte ihn den trockenen Gesetzen der damaligen Poetik unter-
werfen, nach welchen ein Gedicht nur ganz heroisch, das heißt
ledern und bombastisch, oder nur ganz komisch, das heißt
platt und unzüchtig sein durfte. Dieses Princip hing mit seinem
Charakter eng zusammen. Wenn er auch in seinen philoso-
phischen Schriften sich in höhere Regionen emporschwang und
weit über die First des Versailler Schlosses auf die ganze Welf
hinausblickte, sobald von Poesie die Rede war, wurde er wie-
der zum Höfling. Seine Dichtungen waren nur für den Hof be-
rechnet. „Toufe la France" war nicht die Nation, sondern die
kleine Schaar, die um die Pompadour versammelt war. Und
wie diese entnervten, verweichlichten Menschen waren, so muß-
ten auch die Gebilde der Dichter sein, wenn sie ihnen gefallen
sollten. Eine süßliche Höflichkeit, conventionelle Phrasen muß-
ten die Fäulniß der Seelen, die Verkommenheit der Sitten
verdecken. Man konnte sich keine Landschaft ohne Waffeau-
sche. Schäfer denken; Shakespeare war ein Barbar, „un canni-
bale"; den Homer wagte man nicht zu verwerfen, weil es
Tradition war, ihn zu rühmen, aber seine Helden flößten
Schrecken ein, und man zog ihm den zarten Virgil vor. Und
nun denke man sich, welchen Eindruck der finsferblickende,
ernst einherschreifende Dante auf diese nach poudre de riz
duftende Gesellschaft machen mußte. Was sollte man zu seiner
Divina Commedia sagen, die weder ernst und langweilig wie
die Henriade noch unterhaltend und ausgelassen wie die Pu-
celle war? Eine wildwachsende Pflanze von der glühenden
Sonne des Südens zu gigantischer Größe entfaltet, paßte sie
schlecht zu den geradelinigen Taxusalleen der Rococopoesie.
— Voltaire schlug das Buch zu und schrieb eine Abhandlung,
um zu beweisen, daß Dante als ein großer Dichter bewundert
 
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