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Sondheim, Moriz
Gesammelte Schriften: Buchkunde, Bibliographie, Literatur, Kunst u.a. — Frankfurt a.M., 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.34388#0237

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Ursprung und Entwicklung der
Miniaturkunst
Es ist ein uraltes Verfahren, in einer Handschrift den An-
fang eines Abschnittes durch ein rotes Zeichen dem Auge
kenntlich zu machen, sei es, daß man das erste Wort mit einem
roten Strich versieht, oder den ersten Buchstaben rot schrieb,
oder auch eine Ueberschrift in roter Tinte malt Man nannte
dies auf lateinisch rubricare (von rubrum, rot), und die
Schreiber, welche diese Arbeit besorgten, hießen Rubrica-
t o r e s. Die Farbe, die hierzu verwandt wurde, war die Men-
nige, auf Latein mini um, daher sagte man statt rubricare
auch miniare, der rubricator wurde auch miniator genannt,
und seine Arbeit miniatura.
Eine Miniatura im eigentlichen Sinne des Wortes ist also
ein rotes Zeichen, durch welches der Kalligraph den Anfang
eines Abschnittes andeutet; später wurde der Begriff, den wir
mit diesem Worte verbinden, auf den ganzen inneren Schmuck
der Handschriften ausgedehnt, sodaß wir jetzt nicht blos Ka-
pitelüberschriften, sondern auch Ornamente und ganz beson-
ders Abbildungen in Manuskripten damit bezeichnen.
Forschen wir nach dem Ursprung der mittelalterlichen
Miniaturen, so finden wir, daß sie, wie alles was eine hohe
Kultur voraussetzt, auf die antike Welt zurückführen. Die
ältesten uns erhaltenen Handschriften mit Miniaturen sind grie-
chisch-römischen Ursprungs. Sie fallen durch den Mangel an
ornamentalem Schmuck und durch die scharfe Trennung zwi-
schen Schrift und Bild auf. Wir haben es hier mit Produkten
einer hohen Kultur zu thun, in welcher Schreiber und Miniator
getrennt arbeiten; der eine schreibt den Text, der andere füllt
den ihm freigelassenen Raum mit seinen Gemälden aus. Ganz
anders entwickelte sich die Buchmalerei in den nördlichen
Ländern Europas, wohin die Miniaturkunst im Gefolge der
Kirche eindrang. Das Christentum brauchte Bücher zum Got-
tesdienste, Evangelien, Psalter und Sakramentarien, welche
ebenso kostbar wie die übrigen Kirchengeräte ausgestattet
wurden. Die figurenreichen Bilder der griechisch-römischen
Handschriften nachzuahmen, waren die neubekehrten Kelten
und Germanen nicht fähig; dazu waren Auge und Hand noch
zu ungeübt. Aber sie verfügten über einen reichen, hoch enH
wickelten nationalen Ornamentschatz und dieselben Motive,
mit welchen sie bisher Geräte, Waffen und Schmuckgegen-
sfände geziert, wurden nun auf die heiligen Bücher überfragen.
Nach Griechenland und Italien war es zuerst das ferne
Irland, das die neue Lehre annahm. Frühzeitig begegnen wir
hier kostbar geschmückten Handschriften, in welchen nicht
blos Kapitelanfänge mit Ornamenten verziert, sondern ganze
 
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