Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Sondheim, Moriz
Gesammelte Schriften: Buchkunde, Bibliographie, Literatur, Kunst u.a. — Frankfurt a.M., 1927

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34388#0034

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
9

sie die Franzosen zeiht, daß sie auf den Ruhm früherer Zeiten
pochend, alles Fremde als oberflächlich und frivol ohne Gehör
abweise und in jeder deutschen Schrift,die im stolzen Gefühl
ihrer Gediegenheit die unsinnigsten Urtheile fällt, deutsche
Gründlichkeit und deutsches Wissen vermuthe. „Gesagt muß
dem deutschen Publikum werden" — um mit den Worten Paul
Lindaus zu schließen, den Sie als Ihren Gewährsmann an-
rufen — „daß absprechendes Urtheil und schöpferische Ohn-
macht immer Zwilhngsschwestern sind und daß in der ner-
gclnden, unverschämten Kritik weder gesunder Menschenver-
stand, noch rechte Wissenschaftlichkeit liegt, sondern daß sie
nichts Anderes ist, als die reine Windbeutelei."

Französische VersiehreF)
Die Entwickelung der französischen Rhythmik war die-
selbe, wie die der anderen neuen Sprachen. Erst nachdem die
höchsten Blüthenzeiten der Literatur vergangen, nachdem die
grössten Dichter unsterbliche Lieder gesungen, ist es den For-
schern gelungen, die Gesetze zu ergründen, durch welche der
Wohllaut und die Melodie des Verses bedingt werden. Was
der Dichtergenius empirisch gefunden, was ihm die Natur ein-
gegeben, das hat der Gelehrte erst nach mühsamem Studium,
nachdem er oftmals fehlgegriffen, aus regelrechten Schlüssen
gezogen. Die theoretische Rhythmik spielt in dieser Hinsicht
dieselbe Rolle wie die Philosophie, die auch nur Thatsäch-
liches beweisen kann, ohne selbst Schöpferin zu werden.
'S ist wie mit einem Webermeisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifßein herüber, hinüber schiessen,
Die Fäden ungesehen fhessen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt:
Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist euch, es müßt so sein:
Das Erst' wär' so, das zweite so,
Und drum das Dritt' und Vierte so.
Und wenn das Erst' und Zweit' nicht wär',
Das Dritt' und Viert' wär' nimmermehr.
Das preisen die Schüler aller Orten,
Sind aber keine Weber geworden.
Diese Verse lassen sich mit einer kleinen Aenderung auf
die Metrik anwenden; doch wollen wir hiermit ihre Berech-
tigung nicht im geringsten in Abrede stellen. Wenn auch ein
guter Metriker niemals zu einem großen Dichter wird, wenn
er nicht als solcher geboren wurde, so verdient diese Kunst
*) Mit neuen Entwickelungen für die theoretische Begründung französischer
Rhythmik von E. O. Lubarsch. Berlin. 1879. gr. 8°. Weidmann'sche Buchhand-
lung.
 
Annotationen