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Sondheim, Moriz
Gesammelte Schriften: Buchkunde, Bibliographie, Literatur, Kunst u.a. — Frankfurt a.M., 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.34388#0031

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eingeleifef werde, die den Leser in eine andächtige Stimmung
versetzen und ihn von den Kleinlichkeiten des Alltäglichen
loslösend, zu der ätherischen Höhe emportragen könnte, in
welcher der große Olympier thront. Man sollte eine begeisterte
Hymne auf den größten, umfassendsten Geist der Neuzeit er-
warten — statt dessen wird uns ein polemisches Feuilleton
geboten; unter den Blumen, welche das Haupt des Festordners
umranken, zeigen sich die grimmigen Züge des trockenen Com-
mentators; statt den Altar seines Heiligen zu schmücken, schleu-
dert der Priester wilde Flüche auf die Menge, die nicht ganz
seiner Meinung ist und sich einige Zweifel an seiner Unfehl-
barkeit erlaubt. Herr Dr. Sabell setzt Alle herab, Lebende
und Todte; er tadelt Menzel, den „frechen Börne", den „scham-
losen Heine"; er tadelt die Juden, die deutsche Nation, die
immer noch nicht den Faust verstanden hat und „das Ideale
mehr und mehr vernachlässigt." Schließlich, da er in deutschen
Landen vergebens nach anderen Opfern umherspäht, geht er
hinüber nach Frankreich, und nachdem er frisch Athem geholt,
überhäuft er die Franzosen mit seinem Hohn.
Als vor mehreren Jahren Alexandre Dumas Fils seine viel
berufene Vorrede zur üebersetzung des Faust von Bacharach
schrieb, entstand allgemeine Entrüstung. Deutsche und fran-
zösische Bläffer antworteten auf diese Schmähschrift; der Groll
darüber hallte in Deutschland noch einige Zeit lang nach —
dann lagerte sich tiefe Stille um sie her. Warum hat nun Herr
Dr. Sabell diese schon halb vergessene Vorrede wieder hervor-
geholt? Welchen Zweck verfolgt er dabei, wenn er die Goefhe-
feier mit dieser albernen, weniger traurigen als lächerlichen
Geschichte einleitef? Schon vor sechs Jahren hat Paul Lindau
in einem von Humor sprudelnden Artikel Dumas geradezu
vernichtet, und ich begreife die wüthenden Ausbrüche Herrn
Dr. Sabells um so weniger, als er nur die Worte Lindaus wieder-
holt. Wenn er die Richtigkeit des Urtheils desselben anerkannt,
dann hätte er ihn bis zu Ende als Leitstern im Auge behalfen
und auch seine edle Unparteilichkeit nachahmen sollen. „Es
fällt uns nicht ein," sagt Lindau, „die französischen Schrift-
steller und Künstler, seien sie todt oder lebendig, in die Acht
zu erklären; und der Genuß an einem schönen Werke soll uns
nicht dadurch getrübt werden, daß es aus Frankreich kommt."
Hören wir dagegen die Schlüsse, die Herr Dr. Sabell zieht:
„Gemüfh haben die Franzosen nie gehabt; alle Ehrfurcht ist
ihnen verloren gegangen; die hohle Phrase ist ihr Steckenpferd.
Ihre sog. klassische Literatur ist veraltet und abgelebt; die neue
ohne Gehalt und Werth, u. s. w." Wie, Herr Docfor, das sagen
Sie Alles in einem Athem? Sie, ein ernster deutscher Literar-
historiker, werfen auf Seite 15 Ihres Buches den Franzosen vor,
sie hätten kein Verständniß für unsere Literatur, und auf Seite 16
nennen Sie die unsterblichen Werke des großen Corneille, die
 
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