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Verein für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben [Editor]
Ulm, Oberschwaben: Korrespondenzblatt des Vereins für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben — 1.1876

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Nr. 5
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Sittenbilder aus dem XVI und XVII Jahrhundert, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.52608#0042

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36

Steg gellt. Audi die Giebelflächen waren je i
mit zwei bemalten Feldern geschmückt: an '
T° ’■ ■
der einen über der grossen Uhr erblickte man :
die heiligen drei Könige, wie sie nach dem
neugeborenen König ausziehen und ihm Ge-
schenke darbringen, an der andern Beispiele
von Gemeinsinn und Eigennutz, erstere ver-
treten durch Lucius (sic) Mu eins, Scipio Afri-
kanus, Paulus Amilius, letztere durch Marius,
Verres, Marcus Marcellus. Am östlichen Erd-
geschoss links vom Eingang in die Säulenreihe
war ein Thier abgebildet, das Ähnlichkeit mit
einem Hund hat, daneben stand zu lesen:
Bernat Idelingh
Mich stragh fing,
Als hier on Gfaar
Aus Lydien daar
Verirret war.
Solche Sprüche, schlecht und recht, im löb-
lichen Sinn und Stil der Meistersänger, waren
nun auch allen übrigen erwähnten Darstellungen
beigegeben. So stand unter Nr. 2:
Ach liebster Vatter mein,
Bitt, werlst mier gnädig sein,
Im Himmel und vor dier
Ich Sünd than, vergieb mier!
Nr. 5 ermahnte:
Christus Lieb erfüll dein Hertz,
Lieb erfüllt das gantz Gesetz.
Den Samariter siehe an,
Wie er pflegt den armen Mann.
Nr. 11 war durch die Worte erläutert:
Jungen des Weisen Balg
Schlagen, weil er ein Schalk.
Zu Nr. 17 lautete der Text kurz und gut:
Allein
Die Klein.
Nr. 19 warnte:
Auf hohem Steg
Der Sorge pfleg.
Über den Bilderfeldern waren Baldachine ge-
malt, dessgleichen über den niedrigen mit
runden Glasscheiben gefüllten Fenstern. Diese
Krönungen bestanden aus Fialen und Wim-
pergen. Zwischen dem Erdgeschoss und dem
ersten Stockwerk lief ein Friesstreifen mit ’
Masswerk hin.
Hassler in seiner ulmischen Kunstgeschichte j
S. 94 liess sich durch die Nachricht March-

talers, dass die Rathsstube im J. 1509 *) gebaut
worden sei, verleiten, auch die Fresken in
ungefähr dieselbe Zeit zu setzen. Hiegegen
spricht schon, dass an zwei Stellen über dem
Eingang der Hauptfacjade und in der linken
oberen Ecke der Ostseite des nördlichen Flü-
gels die Jahrzahl 1540 gemalt zu sehen war.* 2)
Aber auch der Charakter der Gemälde stimmt
hiezu nicht. Die dargestellten Stoffe zerfallen
in zwei Hauptgruppen. Am östlichen Flügel
ist die Bibel illustrirt, am nördlichen, nicht
ausschliesslich, aber vorherrschend, das klas-
sische Alterthum. Die Figuren aus dem letz-
teren Kreise sind, wie es scheint, voller, üppi-
ger als die biblischen, woraus man schliessen
möchte, dass mehrere Hände an der Her-
stellung arbeiteten. Aber mag eine genauere
Untersuchung dies bestätigen oder nicht, so
viel dürfte immerhin zweifellos sein, dass die
Gemälde in die Zeit nach der Reformation
fallen, von dem ungebrochenen mittelalterlichen
Geiste nichts an sich haben. Sie sind Denk-
male des neuen Glaubens und seines älteren
Bruders, des Humanismus, Denkmale der Zeit,
welche in Bibel und klassischem Alterthum ge-
funden hatte, was sie suchte, Ausdruck des
Bewusstseins, das vom Münsterbau sich ab-
wandte, freilich aber für den neuen Gedanken-
gehalt noch nicht die entsprechende Form ge-
funden hatte, zwischen Gothik und Renaissance
tastend seinen Weg suchte. Die farbenreichen,
freudigen Erwartungen, die Jugend des Re-
formationszeitalters strahlen die Züge dieses
Baus wieder. Noch schien eine Versöhnung
der Gegensätze möglich, noch war die Gerech-
tigkeit nicht gewichen: „Richt nicht auf jedes
Klag, du hörst dann was der ander sag,“ stand
über dem Haupteingang der Ostseite geschrie-
ben und der Leser hat vielleicht beachtet, dass
die Gerechtigkeit zweimal, gegen Norden wie
gegen Osten, vorkommt. Welch unseligen

9 Diese Jahrzahl auch an der durch ihre Schlosser-
arbeit ausgezeichneten Rathhausthüre. Abbildungen der-
selben vermittelt Herr Registrator Knöringer in Ulm.
2) Über einer jetzt zugemauerten Pforte der West-
seite ist die Jahrzahl 1539 eingegraben.
 
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