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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

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Heft 10 (2. Februarheft 1907)
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Avenarius, Ferdinand: Wahlkampf-Aesthetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0691

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^Iahrg- 20 ZweiLes FebruarhefL Z907 tzeft 10


Wah lkampf-Ae sth etik

„Politik verdirbt den Charakter." Müß sie das? Der fast
zum Sprichwort gewordene Ausspruch meint wohl zunächst die Politik
des Diplonraten oder doch des Berufspolitikers im weiteren Sinne,
der mit dem Satze vom Zweck, der das Mittel heiligt, alle Tage
rechnen muß. Lassen wir heut den politischen Fachmann auf seinen
geraden oder krummen Wegen allein, sragen wir einmal, wie das
Politiktreiben aufs Volk wirken mag. Das sei eine ethische Frage
und keine ästhetische? Wer dem letzten Wahlkampfe zugesehen hat,
dem ist im Bewußtsein noch frisch, auch zu welchen ästhetischen
Erscheinungen hier das Lthische führt.

Ich nehme eine sozialdemokratische Zeitung zur Hand: „Der
Freisinn, wie er aus den Spalten des »Berliner Tageblattes« lieblich
duftet, verkuppelt sich schamlos auf osfener Gasse mit Nationalliberalen
und ähnlichen Reaktionsbrüdern." Ich greife zu einem führenden
konservativen Blatte: Dre Sozialdemokraten sind „eine Verschwörer-
rotte, eine richtige terroristische Schwefelbande, der selbst die ge-
meinsten Mittel recht waren, um ihre nichtswürdigen Zwecke zu er-
reichen". Ich leg's hin und hole mir ein parteiloses nationales
Organ für Gebildete: „Das Zentrumsbtatt führt den politischen Kampf
fast ausschließlich mit Beschimpfungen und Verleumdungen. Soweit
diese Anwürfe auf uns persönlich spielten, haben wir sie mit einem
Fußtritt beiseite geschoben." Verlangst du noch mehr, liebe Seele?
Ich habe während dieses Wahlkampfes sorgfältig darauf geachtet und
bin nun bereit, einen Eid auf die Tatsache abzulegen: der Ton mag
je nach dem Bildungsgrade ein wenig verschieden sein, aber das Be-
schmutzen und Verdächtigen war während der vergangenmr schönen
Wochen saft so allgemein, wie das Sonnenlicht. Und doch glaube
ich es jedem, wenn ihn diese Behauptung erstaunt, ja zunächst ent-
rüstet. Ich glaube ohne weiteres an seine Ehrlichkeit, wenn er mir
sagt: „Aoer in meiner Partei war doch nur ehrliche Begeisterung,
der Fanatismus war doch bei den Gegnern!" Das ist ja eben
so, daß man im politischen Kampfe ganz und gar überzeugt dieselben
Dinge als etwas Grundverschiedenes fühlt, je nachdem, ob man sie
hüben oder drüben sieht. Was bei den Freunden entschlossene Wahl-
arbeit, ist bei den Feinden blindwütiges Agitieren, was bei den
Freunden Besonnenheit, bei den Feinden Angst, was bei den Freun-
den Schlagfertigkeit, bei den Feinden Schnellmäuligkeit, was bei den
Freunden kluge Kriegslift, bei den Feinden niederträchtiger Betrug
und so weiter ohne Grazie ins Rnendliche. Männer, deren Bil-
dungshöhe sie sonft zur Sachlichkeit so weit befähigt, wie das uns
Menschen eben möglich ist, messen beim Wahlkampf ganz unbefangen
mit zweierlei Maß, und werden sich dessen auch hinterher nur in den
seltensten Ausnahmefällen bewußt. Wem es wirklich glückt, sich den
Kopf vom Rausche frei zu halten, der hört die wenigen sachlichen
Stimmen nur wie wohltuende Glockenrufe über einer tobenden Menge,

2. Februarheft l902 S57
 
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