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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1907)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Idealisiert die Literatur!
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0592

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Iahrg.20 Erstes Februarheft 1907 HeftS


Jdealistert die Literatur!

Der Idealist: Die Phantasie in meinem Sinn
Ist diesmal gar zu herrisch.

Fürwahr, wenn ich das alles bin,

So bin ich heute närrisch! Goethe

Wenn es sich um das Ideal handelt, ich betone: um das Ideal,
um das allein seligmachende, um das Ideal, wegen dessen in der
berühmten Literaturballade der eine der Dioskuren von Weimar den
andern bange fragt: „geht es Ihnen auch so sehr zu Herzen, Herr
Geheimderat, das Ideal?" — ich sage: dann dars der Zufall, daß wir
gerade ein Fastnachtsheft drucken lassen, niemals den Vorwand her--
geben, um die Erörterung darüber zurückzustellen.

Die Klage über den Mangel an Ideal ist, man darf wohl
sagen: allgemein — die Schwierigkeit, hier zu helfen, lag in der Tat
beim deutschen Volke niemals in einer Meinungsverschiedenheit über
seine Notwendigkeit. Aber seine Verwirklichung erschien nicht ganz
so einfach, wie die Anerkennung, daß es notwendig sei. Es ist nicht
unbekannt, daß die verschiedensten Männer der verschiedensten Be-
rufsstände hierüber zwar intensiv nachgedacht haben, daß sie aber
leider nicht zu einer Einigkeit gelangen konnten. Das Einfache ist ja
immer das, was wir zuletzt finden. Aber jetzt — Heill — jetzt ist
dem deutschen Geiste gelungen, das Rezept für die Verwirklichung
des Ideals wenigstens für ein Gebiet zu finden und zwar für das
in diefer Branche wichtigste: für die Poesie.

Unsre Leser kennen die Wielandsage. In König Niduths Nähe
hauste Wieland, der Alfsohn. Der war ein Schmied von wunderbarer
Kunst, deshalb entbrannte Niduth in Neid gegen ihn. So überfiel er
ihn im Schlaf, ließ ihm an den Füßen die Sehnen zerschneiden und
sperrte ihn auf eine Insel, damit er nur noch sür ihn arbeite, im
Frohne nur noch für ihn allein. Wieland tat's in surchtbarem Groll.
Als aber Niduths Söhne ihn besuchten, da ermordete er sie, und als
seine Tochter ihn besuchte, da schändete er sie. Dann schmiedete er sich
Flügel, verspottete die Entehrte und verhöhnte den Vater und flog
davon. „Damit endet das Lddalied."

Man muß eingestehen: etwas Nnzivilisierteres als diese rohe
Sache kann's nicht geben. Nnd das ist das Empörende: sie hat trotz-
dem immer und immer wieder unsre Dichter und Denker und Träumer
und Gestalter angezogen. Fragte man nach dem Warum, so waren
sie wohl frivol genug, auf die Kraft und aus die Idee hinzuweisen,
die in ihr liegen. Was geht denn uns Leute der „Ietztzeit" Kraft
an? Was die Idee, was aus einem Alfsohn werden kann, wenn der
Neid ihm die Sehnen durchschneidet und sein Bestes nur für gut
genug hält zu eitlem Tande für sich selbst? Was die doch für unsre
Nerven geradezu peinliche Drohung im Stosf und die grausige Tragik
in seiner Lösung? Sind wir denn nicht gebildete Leute, denen das
Dämonische im Menschen nur als Pfeffer zum Bestreuen der mit
Schweineschinken oder Gänsebrust belegten Abend-Butterbrote taugt?

b Februarheft ^85
 
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