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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1907)
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Avenarius, Ferdinand: Vom Erstaunen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0466

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Iahrg. 20 Erstes Ianuarheft 1907 Heft 7


Vom Erstaunen

Das Knäblein liegt in den Kissen, macht die allerverschmitztesten
Bewegnngen mit diesem ^kleinen blanken Rundzeug von Glied-
maßen, brömmelt dabei vor sich hin, und man sieht's ihm an: es
schmeckt das ordentlich auf der Zunge, wie viel hübscher es hier im
Leben ist, als vor füns Monaten drüben im Storchteiche. Da reicht
es, im Dasein unter der Sonne zum ersten Mal, mit dem Armchen
ans Beinlein. Was ist denn das? Lin höchliches Lrstaunen malt
sich aus seinem Gesicht. Da unten ist auch noch was? Was denn
gleich? Untersuchungen folgen nnd noch und abermals welche — bis
das fürs Armchen neue Zappelding, das da hängt, mit dem andern
Besitz im Bewußtsein dauernd zusammengebracht ist.

Der das lächelnd von seinem Iüngsten erzählte, war ein Mann
von der Sternwarte. Lr treibt seine Studien nicht, wie sich's der
Laie vom Astronomen denkt, immer mit dem Fernrohr vor'm Gesicht,
sondern, wie's in Wirklichkeit zugeht: zumeist rechnend mit nüchternen
Zahlen. Nüchtern sind ihm aber die Zahlen nur, wie die Kilometer-
zeichen dem Wandrer, solange sie noch fern vom ersehnten Ziele am
> Wegrand stehn. Ie weiter man kommt, je sprechender werden sie. Und
!> glückt's, so steht am Lnde sür den Astronomen eine neue Aussage: etwa
eine Abereinftimmung „feiner^ Zahlen mit jenen andern dort, die noch
kein Forfcher verglichen hat. Dann erstaunt der Rechner. Woher
das? Neue Fragen drängen sich auf, Ausblicke in ein Dunkel, in
dem es von Lichtnebeln schimmert. Wird er sie deuten können?
Wenn nicht, wird er für folgende Geschlechter wenigstens die richtige
Fragestellung gefnnden haben? Geht es ihm wie seinem großen
Vorgänger, als er am Saturn zur Rechten und Linken mit höchstem
Erstaunen die seltsamen Auswüchse sah, von denen die Späteren
entdeckten: es waren die Ringe? Diese Ringe, die den Forscher noch
bis in unsre Zeit so ost erstaunen ließen, wenn sich neuen Deu-
tungen neue Rätsel entgegenstellten? Oder geht's ihm wie unserm
Zeitgenossen, als er über die feinen Geraden auf dem Mars
erstaunte?

Ls ift zum Erftaunen, wie wenig die Menschen darüber nach-
denken, was eigentlich das Lrstaunen ift. Begleitet es sie nicht vom
Dämmer-Halbwachen der Säuglingsseele über die tiefsten Gedanken
vom „Ding an sich" oder die weitesten Gefühle vom Nnendlichen ihr
Leben lang? Doch nicht, nur solange ihr Leben bergauf führt. Der
müde Greis kann noch froh oder schmerzhaft erschrecken, aber er erstaunt
nicht mehr. Der das „nil aämirari" nicht nur in schlimmer Stunde ein-
mal mit bitterm Geschmack als praktische Klugheitslehre erkannt, nein,
der es znm Lebensleitspruch wählen gekonnt hätte, hätte damit auf ein
weiteres Vorwärts und Lmpor für sein bestes Teil verzichtet. Reines
Erstaunen ist nicht mit Fnrcht oder Hoffnung für den gepaart, der
erstaunt. Wir „erstaunen" nicht, wenn wir die unerwartete Nach-
richt vom Gewinne des großen Loses, oder von der Nntreue eines

s. Ianuarheft OO? 277
 
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