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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

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Heft 7 (1. Januarheft 1907)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0500

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Was ist Wahrheit?

„Ich weiß es, ich allein," sagt
die Wissenschaft, „denn ich allein
bin objektiv".

Worin aber besteht diese Objekti-
vität der Wissenschaft? — In ihrer
Fähigkeit, vom Leben zu abstra-
hieren, das heißt aus Erscheinungen
und Empfindungen einen Begriff
herauszufinden, der auf alle paßt.
Amd wie entwickelt sich dieser un-
fehlbare Begriff? Aus dem Be—
greifen. Ein verräterisches Wort:
aus unsern Empfindungen also, die
so gänzlich unwissenschaftlich sub-
jektiver Eskapaden fähig sind, aus
ihnen heraus entstände der „ob-
jektive" Begriff? Welch' eine kom-
promittierende Herkunft!

Ist da am Ende auch der Herr
Sohn nicht gar so objektiv, wie er
zu sein glaubt?

Ist die Wissenschaft so ganz objek-
tiv, wenn sie unsre persönlichen Ge-
fühlserkenntnisse, unsre Lebensüber-
zeugungen als Wertsuggestionen be-
handelt und fie damit bis in den Kern
hinein in ihrem Wirklichkeits- und
Wahrheitswerte verdächtigt, während
sie doch ihren eigenen abstrakten Er-
fahrungen als Erkenntnissen und
Wahrheiten ohne weiteres die rcalste
Geltung zuspricht? Urteilt sie hier
nicht einmal — ausnahmsweise —
recht subjektiv von ihrem Stand-
punkte als dem Standpunkte aus?
Wäre es zum mindesten nicht höf-
licher von seiten ihrer Terminolo-
gie, hier, statt zwischen Wahrheiten
schlechthin und Wertsuggestionen,
zwischen begrifflichen und persön-
lichen Wahrheiten zu unterschei-
den, Wahrheiten, die auf den Ve-
griff, und Wahrheiten, die auf die
Persönlichkeit als Quelle zurück-
gehn? Wobei denn jeder nach eig-
nem Geschmack entscheidsn könnte,

was ihm „wahrcr" ist: die Schlüsse,
die wir ziehen, wenn wir die Welt
von „außen" her, mit unserm Be-
griff „objektiv" zu ergründen suchen,
oder die Ergebnisse, die wir ge-
winnen, wenn wir sie aus unserm
Wesensinnern heraus persönlich zu
erfassen streöen. Ob uns, um in
lebendigem Beispiel zu reden, Phi-
losophen wie Kant etwa als Wahr-
heitskünder gelten, oder solche vom
Schlage Nietzsches.

Oder sollte es am Ende gesin-
nungslose Menschen geben, denen
beids Arten Wahrheit als Wahr-
heiten in ihrer Art gelten, die sich
nicht gegenseitig befehden, sondern
sogar stützen und ergänzen können,
sobald sie eben nur wahr genug sind,
um nicht mehr von sich und vom
andern nicht weniger zu halten, als
beiden Teilen zukommt?

Leopold Weber

Anklare Schlagworte 2
„Der unbefangene Leser"

In ästhetischen Auseinanderset-
zungen geht häufig ein Geist als
Träger „naiven" Empfindens um;
dieser Geist erscheint, wo gewöhn-
liche Gründe nicht allein helfen,
als letzter Trumpf und bester
Grund: der „unbefangene Leser".
Voltaire hat den Roman eines
solchen unbefangenen, nicht bloß
Lesers, sondern Menschen über-
haupt geschrieben. Ingsnu ist der
Sohn französischer Eltern in Nord-
amerika; als Kind geraubt, wächst
er unter den Huronen auf, hält
sich selbst für einen Huronen und
gelangt so nach Frankreich. Hier
folgt er durchaus seinen Ein-
gebungen, wird als Naturbursche
bewundert, von Verwandten wieder-
erkannt, durch Zufälle und Miß-
verständnisse in die Bastille ge-

s. Ianuarheft OO?
 
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