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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1906)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Kunstnatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0090

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l Iahrg.20 Zweites Oktoberheft 19O6 Heft2

Kunstnatur

„Drahtkultur — was verstehen Sie darunter? Immer wieder
kommen im Kunstwart Rundschau-Beiträgelchen, die sich über das und
jenes lustig machen und »zur Drahtkultur« überschrieben sind. Aber was
eigentlich unter dem Begrifse selber verstanden werden soll, darüber
schweigen Ihre Weisen. Hängt's mit den Stacheldrahtzäunen zusammen?"

Höchstens insofern, als ein Stacheldrahtzaun ein vorzügliches
Mittel ist, einen festzuhalten, der über ihn weg will, und die Draht-
kultur auch. Sie gehört nämlich unter die Erscheinungen, von denen
wir im vorigen Heft sprachen: bei welchen das Mittel zum Zweck wird.
Ihren Namen aber hat sie von den Blumensträußen auf Draht. Man
liebt die Blumen, also gibt man ihnen durch Abschneiden den Tod,
dann aber drahtet man sie auf, damit sie im Strauße aussehen, als
wenn sie noch lebten. Als an ein geradezu klassisches Beispiel von Draht-
kultur erinnere ich noch einmal an die Stiftung Walthers von der
Vogelweide und an das von uns abgebildete Denkmal. (Kw. XlX, 1) Ein
Dichter und Vogelfreund wünscht den gefiederten Sangesgenossen auch
nach seinem Tode noch gutes zu tun, und so setzt er eine Stiftung
eiu zu ihrer Speisung auf seinem Grab. Iahrhundertelang bleibt das
vergessen, vor sechzig Iahren erinnert sich ein Verein daran. Wie
schön, die Vögel wieder zu Walthers Lhren schmausen zu sehen, als
schaue der alte Sänger und Spender irgendwo hinterm Rosengebüsch
dem zu. Ein Gedanke, lachend vor Leben, Lenz und Sonnenschein!
Also stellte man zu freundlicherm Gedenken die Schale mit lockenden
Körnern wieder auf? Nein- man bildete den Vorgang nach, Schale,
Futter, Vögel, alles in Stein! — Ilnd man kam gar nicht auf den
Gedanken, daß man damit eigentlich seiner selber spotte.

Das ist aber immer ein Kennzeichen der Drahtkultur, daß man
mit ihr seiner selbst spottet, ohne daß man's merkt. Wenn das innere
Auge die Loreley auf dem Felsen sieht, verkörpert es allerhand, was
in Fels, Luft und Welle geheimnisvoll lebt, aber wenn man die Loreley
an eben die Stelle gemeißelt und bemalt setzen würde, so bliebe das
Menschenwerk tot und das Geisterweib versänke, denn das bewegt sich
und singt und kämmt sein goldenes Haar viel glaublicher einsam in
Nebel und Sonnenduft, als in Gesellschast von des Herrn Bildhauers 9t
noch so naturgetreuer Arbeit. Nicht nur Keller und Meyer, Schwind
und Böcklin, sondern wer nur irgendwie ihres Geschlechtes ist, sieht
die Nixe im Alpseesilberlicht viel lebendiger im unberührten Wasser-
spiel, als wenn der Wirt am Badersee eine Nixe aus Steinguß ins
Wasser legt und sie gegen Trinkgeld durch ein Glassenster im Boots-
boden bestaunen läßt. Die wirklichen Nixen leben in Nöcken-Nnter-
wasserland, aber das löst sich aus, wo Realität hineiuplumpst. And
wer Phantasie hat, der spürt den Rübezahl gewiß deutlicher, wenn sich
die Wolken mit Tannen in der Einöde balgen, als wenn eine noch so schön
„realistisch" bemalte Majolikafigur eben Rübezahls dazwischen stände.

„So," antwortet der Korrekte, „und mit welchem Recht malt uns



2. Oktoberhest V06

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