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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

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Heft 9 (1. Februarheft 1907)
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Weingartner, Felix: Musikalische Walpurgisnacht: ein Scherzspiel
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Es muss etwas Gründliches geschehen! Ein Mahnwort in letzter Stunde
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0615

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Es muß etwas Gründliches geschehen!

Ein Mahnwort in letzter S4unde

Kein Geringerer als Meier-Graefe hat es gesagt, der Mann, bei
dessen Namensnennung der Hut auf jedes Kenners Haupt sich von
selber lüftet: „Kein Band zwischen dem Heiligsten und
der Menschheit, das nicht durch diesen Kultus des
Pseudopriesters zerrissen würde." Des Pseudopriesters
Böcklin natürlich. Kein Band, keines! Versteht ihr, Schwach-
hörige, was das heißt?? „Kein Band zwischen dem Heiligsten nnd der
Menschheit"!!! Ist es zu viel verlangt, wenn bei so ungeheurer Ge--
fahr auch die ungewöhnlichsten, wenn auch die ungeheuersten An-
strengungen uns nur eben als selbstverständlich erscheinen, um den
Kultus des Pseudopriesters zu vernichten???

O, gib nicht alle Hosfnung auf, mein deutsches Volk, noch ist's
Zeit zu retten! Aber nun arbeite mit Lntschlossenheit!

Zunächst: wirke in allen deinen Schulen dem Götzendienste für
Böcklin entgegen. HLnge zu diesem Zweck in allen Schulzimmern
Liebermanns „Simson" und Corinths „Kreuzigung" in originalgroßen
farbengetrenen Kopien auf. Kein Zweisel, daß alsbald sämtliche Knaben
und Mädchen sich mit einem „Psui Deubel noch mal" abwenden werden.
Damit aber ist der erste, der negative Schritt zur Hebung der Augen-
kultur getan: die Gefahr beseitigt, daß die Iugend diese Werke aus
Liebe zu dem betrachtet, was zufällig daraus zu sehen ist. Es folge der
zweite, der positive Teil wahrer Kunsterziehung: die Valeurs zu sehen.
Nur die Abung kann das erreichen. Deshalb mögen fortan sämtliche
Schulstrafen in die eine verwandelt werden: die Kinder unnachsichtlich
mit jenen Kunstwerken zusammenzusperren. An Buß- und Fasttagen
aber verweile die ganze Klasse eben hier in Betrachtung, bis sie mit
den Farbenharmonien dieser Werke, um volkstümlich zu sprechen,
die Engel im Himmel pseisen hört. So wird sich die nötige Augen-
übung erreichen lassen.

Freilich, wir dürsen uns nicht verhehlen: wenn die durch den Kul-
tus Böcklins sämtlich zerrissenen Bänder zwischen dem Heiligsten und
der Menschheit wieder zusammengebunden werden sollen, so genügt das
noch nicht. Ist nicht in malerischer Beziehung, um lutherisch deutsch
zu sprechen, wenn auch nicht die Welt, so doch jede Galerie, jede Kirche
und jeder Kunstladen voller Tenfel? Nein, dieses besagte zu viel,
und ich nehme es sogleich zurück, denn es gibt für den modernen
Kunstgelehrten ja nichts, was er so von Grund aus haßt, wie das
Abertreiben. Aber ich muß sagen: voll Mißverständlichkeiten, die gleich
Teufeln wirken. Denn es ist nicht zu leugnen, daß nicht nur die
Hohlköpfe der Vergangenheit, wie z. B. jener Raffael aus dem Lande
der Maccaroni und dieser Dürer aus dem zinnsoldaten- und Pfesfer-
kuchenberühmten Nürnberg Konzessionen ans Publikum gemacht
haben, indem sie Bilder malten, bei denen sich auch etwas denken ließ.
Sondern auch Leute von achtbarem Können, die als Vorläuser der
Manet und Liebermann in gebührendem Abstande immerhin mit-
zählen, wie beispielsweise Velasquez, Hals, Rubens und der aller-

sos Kunstwart XX, 9
 
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