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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

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Heft 7 (1. Januarheft 1907)
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Avenarius, Ferdinand: Vom Erstaunen
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Vogel, Alfred: Interpretationskunst: Bemerkungen gelegentlich Kleists
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0469

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Das ist die Stimmung aller Resormatoren in der Kunst. Sie zeigen's
andern, „ja", rnfen die, „s o ist sie", und Schulen bilden sich. Dann
bei den Schülern Richtungen und bei den Herden Moden. Nnn
mag vergessen werden, wie man die Welt bisher sah. Man „ver-
steht" das nicht mehr. Bis wieder einer vor dem Unmodernen er-
staunt: „es ist wahr, man kann's ja anch so sehn." And dnrch das
Lrstannen sich aus dem Alten heraus ein für ihn Nenes, eine
Mehrung seines Innenschatzes ergräbt.

Wir erstaunen, sagten wir, solange unser Leben bergaus führt.
Ls führt ja auch beim geistigen Anstieg nicht in gerader Linie berg-
aus, und so gibt es Strecken Wegs, wo das Lrstaunenkönnen geringer,
und solche, wo es größer ist. Wir kennen alle die Zeit nicht des
Grünens, aber der Grünheit, da uns das Lrstaunen als etwas Un-
mannliches, das Blasiertsein als ein Zeichen des Erwachsenseins er-
scheint, sodaß wir das Staunen unvereinbar halten mit unsres noch
ungewohnten Großseins Würde. Das geht bei tüchtigen Kerlen vorüber
und ist bei ihnen auch in der Grandezza-Periode meist ja nur äußer-
lich. Aber für jeden kommt der Punkt, da die Entwicklungsfähigkeit des
Gehirns aushört, da wir nur noch mit dem schon Assimilierten wirt-
schasten, mit andern Worten: da wir Philister werden. Lr liegt
unglaublich verschieden in den einzelnen Lebensläusen, dieser Punkt,
es gibt echte Philister schon aus den Schulbänken, es gibt Silber-
haarige, die immer noch keine sind. Das rechte Lrstaunenkönnen
will ja auch gepflegt sein. Wer sich gewöhnt, aus seinen Anrus
„schweig!" zu sagen, den rust es seltner und seltner an, aber wer
vor Begeisterung gleich aus dem Häuschen gerät, wenn sich's meldet,
der verzieht es wieder, und es gewöhnt sich das Pussen mit Schwär-
mern an. Mit voller Sammlung ihm ruhevoll nachzugehn, das erzieht
es und übt es recht. A

Jnterpretationskunst

Bemerkungen gelegentlich Kleists

Interpretationskunst als die Kunst, aus einzelnen Aeußerungen
und Taten eines Menschen seine Gesamtpersönlichkeit zu erschließen,
wird in gewissem Sinne von allen geübt. Aber wie wenige sind hier
Berusene!

Was muß alles zusammenkommen, damit ein solcher Künstler
der Interpretation entstehe? Tiefe und Weite des eigenen Innenlebens,
Fülle der Erfahrung, der angeborne Instinkt des Erratens, Hin-
gebung und doch wieder psychologisch-schöpferische Gestaltungskraft
(Phantasie), Abwartenkönnen, Achtsamkeit, die so seltene Bereit-
willigkeit, immer wieder umzulernen, dann die Fähigkeit, in der
Fülle von Einzelerscheinungen die Klarheit nicht zu verlieren, Sicher-
heit und Treue des Instinktgedächtnisses, das auch den gesühlsmäßigen
Lindruck nicht schnell verblassen läßt, ein festes und entschiedenes
Zusassen, um das Wesentliche abschließend hinzustellen. . . Wenn
man das bedenkt, wird man sich nicht wundern, wie unzureichende
Nrteile über Menschen gefällt werden. Aber das ist vielleicht

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