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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1906)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Zur Weihnachts-Einkehr
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0389

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Iahrg.2O Zweites Dezemberheft 1906 Heft6

Zur Weihnachts-Einkehr

Und der Mahner sprach also:

„Niemals wird sich die Geschichte der Menschheit, die irgend
eines Volkes, am wenigsten die des deutschen, ästhetisch gestalten lassen;
niemals wird man ein Volk durch die Lrziehung zur Kunst in dessen
innerstem Besitze tatsächlich bereichern und stärker machen. And
prangten in der Siegesallee statt Puppen die größten Schöpfungen
der Bildnerei und wäre jeder Schutzmann ein begeisterter Kunstfreund:
alles wäre umsonst, wenn die Kraftquellen unsres Volkes versiegen.

„Nicht »schön« im Sinne eines verweichlichten Geschlechts, nicht
»ästhetisch« ist das Gesetz, das dem Werden und Welken der Völker
eingeboren ist. Es ist hart, aber dennoch groß und erhaben, am
größten dann, wenn es von den Völkern das Aufgebot aller männ-
lichen Willenskräfte verlangt.

„Wie unsre Lage, wie unsre Anlage ist, bedeutete ein ästhetisches
Deutschland den Fall und Verfall unsres Volkes. Denn es würde
zu noch größerer Verweichlichung führen, als sie jetzt schon in weiten
Kreisen herrscht. Wir sind so angelegt, daß sich stets einzelne als
Dichter und Künstler zu den höchsten Gipfeln der Leistungsfähigkeit
erheben, aber niemals kvnnen wir ein Kunstvolk werden. Höchstens
ein künstlich-künstlerisches, ein mit der ästhetchchen Milchslasche zu
halbem Leben aufgepüppeltes. Alles, was man heute in dieser Aich-
tung unternimmt, ist nur geschaffen, diese Zwitterbildung zu fördern.
Nichts mehr soll aus der ursprünglichen Kraft der Linzelnseele hervor-
gehen, alles wird veräußerlicht, alles zum Gegenstande des Nnter-
richts hinabgewürdigt und verflacht.

„In der tiefsten Stille häufen sich im erdgebetteten Samenkorn
die Spannkräfte der schaffenden Natur; im tiefen Schweigen arbeiten
die Zellchen, bis die Stunde der Auferstehung kommt. So arbeitet
Gott. Aber die weisen Menschlein zerren das Korn aus dem Mutter-
boden und führen ihm künstliche Nährmittel bei künstlichem Lichte
zu. So kommt es zu einem scheinbar schnelleren Reifen. Aber die
Früchte werden kläglich sein. Vielleicht hebt sich der Durchschnitt
einer rein äußerlichen Kunstbildung, aber immer seltener müßten solche
Geister werden, die sich in der Stille, gebettet in den Mutterboden
der Natur, für die Zeit des Schaffens vorbereiten.

„Das Stärrste in den Seelen ist die Sehnsucht, ist das Suchen
nach etwas unklar Geschautem, das vor dem innern Auge schwebt.
Der geheimnisvolle Drang wohnt als Samenkorn, von Gotteshand
gestreut, im tiefsten Grunde. Lr ist das verhüllte Schicksal, das die
Werdenden auch im Irrtum und Fehle, in Llend und Leid leise
lenkt. Im Innern lebt es, im Innern wird es unklar empfunden,
klarer gefühlt und zuletzt erkannt. Es hört im Geiste schwebende
Klänge, sieht rinnende Farben, tastet nach wogenden Formen, schaut
werdende Gedanken. Sehnsucht, das Gleitende zu fassen, in Ton,
Farbe, Form oder Wort zu bannen, im Linzelnleben Ahnung des

2. Dezemberheft M6 309
 
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