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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1906)
DOI Artikel:
Schlaikjer, Erich: Was gestaltet das Berliner Theaterleben?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0152

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l Iahrg. 20 Erstes Novemberheft 1906 Heft 3

Was gestaltet das Berlmer Theaterleben?

Die Äberschrift könnte manchen zu der Annahme verführen,
daß meine Arbeit sich im wesentlichen mit den lokalen Verhältnissen
der Hauptstadt befassen wolle. Gerade das Gegenteil ist der Fall.
Bei den Faktoren des Berliner Theaterlebens denke ich keineswegs
an Berliner Größen oder Nullen. Ich denke weder an Brahm noch
an Reinhardt, weder an das „Kleine Theater" noch ans Schauspielhaus,
weder an Bassermann noch an Matkowsky, weder an bekannte Kritiker
noch an bekannte Dichter. Alle diese Faktoren erfahren ihre fortlaufende
Wertschätzung durch die Kritik. Andere Faktoren dagegen kommen nicht
zu ihrem Rechte.

Am es gleich zu sagen: die Faktoren, von denen wenig geredet
wird, sind in jedem Betracht die wesentlichen. In Hinblick auf die
konkrete Gestaltung des Berliner Theaterlebens sind sie durchaus die
primären Arsachen, während die bekannten Dichter, Kritiker und Direk--
toren, die das Bild in der Wirklichkeit ausmachen, nur sekundäre
Erscheinungen sind. Es gibt einen feuilletonistischen Kniff, der einer
Arbeit einen konkreten und möglichst aktuellen Titel gibt, um den
Leser zunächst zum Lesen zu verführen und ihn dann seiner Pein zu
überlassen. Von so argen Listen aber ist meine Seele frei. Obwohl
es sich um die bekannten Namen nicht handelt, handelt es sich doch
um Kräfte, die in aller Realität nicht nur als Faktoren, sondern sogar
als die wesentlichen Faktoren des Berliner Theaterlebens zu bezeichnen
sind. Mit den „Faktoren" also hat es in jeder Beziehung seine
sachliche Richtigkeit.

Nm meine Meinung über diese anonymen Faktoren in aller
Klarheit sagen zu können, will ich von einem Beispiel ausgehen. Die
alte Berliner Posse hat, wie wir alle wissen, einmal eine Periode des
Glanzes gehabt. Ihr Lebenselement war das Behagen des Bürgertums.
Berlin wuchs, dehnte sich und reckte sich, aber alle Klassen, auch die
Arbeiter, freuten sich daran. Es war die sozusagen naive Periode
der Industrie; die Indnstrie hatte noch nicht chre Klauen gezeigt.
Der Mittelstand war noch nicht entwurzelt oder in seinen Lebensbe-
dingungen bedroht; zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern bestand
noch ein gewisses patriarchalisches Einvernehmen und der Glaube an
gemeinsame Interessen. Die erbitterten Kämpfe, die heute wie Erdbeben
die ganze ökonomische Welt erschüttern, waren noch unbekannt. Das
Grollen aus der Tiese war noch nicht vernehmbar oder war es doch
nur für sehr feine Ohren. Denn daß es schließlich doch vernehmbar
war, beweist eine kleine, aber sehr interessante theatergeschichtliche Notiz.
An dem Abend, an dem eine der alten Berliner Possen (die „Maschinen--
bauer von Berlin", wenn ich nicht irre) im Wallnertheater in Glanz
und Iubel ihre Premiere feierte, — an dem Abend stand im
Saal des Handwerkervereins in der Sophienstraße ein Mann»
der seinen ersten Vortrag vor den Berliner Arbeitern hielt. Nnd
dieser Mann war Ferdinand Lassalle. Im Wallnertheater jauchzte

l. Novemberheft G06 N3
 
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