Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 54.1938-1939
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https://doi.org/10.11588/diglit.16487#0051
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Bender, Paul: Wirklichkeit und Wahrheit im Porträt
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der Schönheit unmittelbar gegeben, er bedarf der Erinnerung
durch die Natur nicht, um von ihr zu wissen. Eine Folge dieser
Gabe ist es, daß seine Werke die Abbilder seiner inneren Gesichte
sind: seine Spezialität ist die frei erfundene Komposition. Das be-
deutet für seine Auseinandersetzung mit der sichtbaren V elt
einen Umweg über die Seele: Er forscht im Modell nach der Seele,
und wenn er sie gefunden hat (oder zu haben glaubt), dann hat
die Physiologie des Modells seine Pflicht für ihn getan, er wendet
den Blick ab, sucht und findet in sich der Seele (oder seiner Vor-
stellung von ihr) die gemäße ästhetische Gestalt und bildet diese
im Werk ab. Als Porträtist ist er also mit Notwendigkeit Menschen-
kenner, während der andere sich über den Charakter seines Modells
höchstens als Privatmann Gedanken macht, denn das Wissen um
die symbolische Sprache der Formen ist ja nicht notwendiger Be-
standteil seiner künstlerischen Begabung. Die Frage nach dem
Wert der beiden Begabungen ist in diesem Zusammenhang gewiß
nebensächlich, aber wir sind der Meinung, daß es ist, als ob man
einen Vers kann oder sich nur an ihn erinnert. Selbstverständlich
ist das, was der eine in der Natur wiedererkennt und der andre
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durch die Natur nicht, um von ihr zu wissen. Eine Folge dieser
Gabe ist es, daß seine Werke die Abbilder seiner inneren Gesichte
sind: seine Spezialität ist die frei erfundene Komposition. Das be-
deutet für seine Auseinandersetzung mit der sichtbaren V elt
einen Umweg über die Seele: Er forscht im Modell nach der Seele,
und wenn er sie gefunden hat (oder zu haben glaubt), dann hat
die Physiologie des Modells seine Pflicht für ihn getan, er wendet
den Blick ab, sucht und findet in sich der Seele (oder seiner Vor-
stellung von ihr) die gemäße ästhetische Gestalt und bildet diese
im Werk ab. Als Porträtist ist er also mit Notwendigkeit Menschen-
kenner, während der andere sich über den Charakter seines Modells
höchstens als Privatmann Gedanken macht, denn das Wissen um
die symbolische Sprache der Formen ist ja nicht notwendiger Be-
standteil seiner künstlerischen Begabung. Die Frage nach dem
Wert der beiden Begabungen ist in diesem Zusammenhang gewiß
nebensächlich, aber wir sind der Meinung, daß es ist, als ob man
einen Vers kann oder sich nur an ihn erinnert. Selbstverständlich
ist das, was der eine in der Natur wiedererkennt und der andre
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