Eugene Delacroix über das Geheimnis der Malerei
. . . Sie fragen mich, ob ich ein Geheimnis hätte:
nichts anderes ist, als das Geheimnis der leider wenig
zahlreichen Leute, deren Feinheit darin beruht, daß
sie stets die Wahrheit sagen. Man hat uns zu oft
wiederholt, es gäbe gewisse Kunstgriffe, ohne welche
die Malerei nicht voll zur Geltung käme. Betrachtet
man aufmerksam die Natur, die keine Anstrengungen
macht, um Wirkung zu erzielen, so wird man ge-
wahr, daß unser Bemühen eher dahin gehen muß,
ihr Schritt für Schritt zu folgen als sie zu ergänzen
oder zu verbessern.
. . . Der Künstler muß die Natur zwingen, durch sei-
nen Kopf und durch sein Herz zu gehen.
*
Die Frage des Realismus löst sich in die folgende
auf: wir brauchen eine scheinbare Wirklichkeit, aber
der buchstäbliche Realismus ist eine Dummheit. Hol-
bein scheint in seinen Bildnissen die Wirklichkeit
selbst und ist wunderbar. Die Hand des Mannes mit
dem Barett von Raffael desgleichen. Aber das Gefühl
des Malers muß den Stempel geben.
*
. . . Die Natur ist weiter nichts als ein Lexikon, wo
man nach Wörtern sucht, man findet da die Ele-
mente, welche einen Satz oder eine Erzählung bil-
den; aber kein Mensch hat jemals das Lexikon als
eine Komposition im dichterischen Sinne des Wortes
angesehen. Was den Gesamteindruck anlangt, so ist
die Natur durchaus nicht immer interessant. Zwar
bietet jede Einzelheit eine Vollkommenheit, die man
wohl unnachahmlich nennen muß, aber die Vereini-
gung dieser Einzelheiten bietet nur selten einen Ein-
druck, vergleichbar der Wirkung, die der große
Künstler in seinem Werke durch das Gefühl für
Komposition und Gesamtbild erreicht.
Kunst für Alle, Jahrg. 54, Heft 9, Juni 1939 37
285
. . . Sie fragen mich, ob ich ein Geheimnis hätte:
nichts anderes ist, als das Geheimnis der leider wenig
zahlreichen Leute, deren Feinheit darin beruht, daß
sie stets die Wahrheit sagen. Man hat uns zu oft
wiederholt, es gäbe gewisse Kunstgriffe, ohne welche
die Malerei nicht voll zur Geltung käme. Betrachtet
man aufmerksam die Natur, die keine Anstrengungen
macht, um Wirkung zu erzielen, so wird man ge-
wahr, daß unser Bemühen eher dahin gehen muß,
ihr Schritt für Schritt zu folgen als sie zu ergänzen
oder zu verbessern.
. . . Der Künstler muß die Natur zwingen, durch sei-
nen Kopf und durch sein Herz zu gehen.
*
Die Frage des Realismus löst sich in die folgende
auf: wir brauchen eine scheinbare Wirklichkeit, aber
der buchstäbliche Realismus ist eine Dummheit. Hol-
bein scheint in seinen Bildnissen die Wirklichkeit
selbst und ist wunderbar. Die Hand des Mannes mit
dem Barett von Raffael desgleichen. Aber das Gefühl
des Malers muß den Stempel geben.
*
. . . Die Natur ist weiter nichts als ein Lexikon, wo
man nach Wörtern sucht, man findet da die Ele-
mente, welche einen Satz oder eine Erzählung bil-
den; aber kein Mensch hat jemals das Lexikon als
eine Komposition im dichterischen Sinne des Wortes
angesehen. Was den Gesamteindruck anlangt, so ist
die Natur durchaus nicht immer interessant. Zwar
bietet jede Einzelheit eine Vollkommenheit, die man
wohl unnachahmlich nennen muß, aber die Vereini-
gung dieser Einzelheiten bietet nur selten einen Ein-
druck, vergleichbar der Wirkung, die der große
Künstler in seinem Werke durch das Gefühl für
Komposition und Gesamtbild erreicht.
Kunst für Alle, Jahrg. 54, Heft 9, Juni 1939 37
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