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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 54.1938-1939

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Kammerer, Ernst: Quercias Grabmal der Ilaria del Carretto
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https://doi.org/10.11588/diglit.16487#0120

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Jacopo della Quercia. Grabmal der Ilaria del Carretto im Dom San Martino in Lucca

Quercias Grabmal der Ilaria del Carretto

Italien beging im Jahre 1958 das Gedächtnis des
500. Todestages von Jacopo della Quercia mit einer
Ausstellung in Siena, der Stadt, in der er 1458 starb.
Dieser — in seiner Bedeutung vielleicht nicht immer
genügend gewürdigte — Künstler an der Wende der
Gotik und Renaissance, ist eine Gestalt der italieni-
schen Kunst, die den Nordländer besonders berührt.
Denn sie ist eine der Persönlichkeiten von tragichem
Ausdruck der Gestaltung, aus deren Werk man den
..Beethovenklang"' vernimmt. Dieser Klang wird in
der italienischen Plastik durch die Jahrhunderte immer
wieder vernehmbar. Er bricht schon gewaltig durch
die mächtigen Formen Giovanni Pisanos. er erhebt
sich neu im Werk Quercias, er durchzittert die Form
Donatellos, und er wühlt schließlich die Gestalten
Michelangelos auf. Ein Künstler wie Ghiberti da-
gegen steht in der lächelnden Schönheit seines Linien-
flusses neben Quercia wie der andere Pol italienischer
Kunst, wie die vollendete Verkörperung der Selbst-
sicherheit lateinischen Formausdruckes.
Das Grabmal der Ilaria del Carretto in San Martino
in Lucca ist ein besonders eindrucksvolles und ergrei-
fendes Werk des Meisters. Die Gestalt der Ilaria ist
von wundervoller Geschlossenheit des Aufbaues und
von großer Tiefe der Empfindung. Die Falten des Ge-
wandes ziehen in großen weichen Zügen, ihre schwin-
gende Bewegung ist voll Kraft und hoheitsvoller An-
mut. Es sind nicht die strengen Grate jener nordi-
schen Gotik, die bewegt ist von einem unstillbaren
Drang: diese Falten sind gerundet von dem Lebens-
gefühl der südlichen Menschen. Damm ist Quercia
— auch da, wo er in gotischen Motiven sich bewegt —
für unser Empfinden so wenig ein Gotiker in nordi-
schem Sinn wie Giovanni Pisano. Die Bewegung seiner
Formen drängt nicht über sich hinaus, sie schließt
sich in dem strengen langgestreckten Oval des Körper-
umrisses. Dieses Oval aber ist nicht eine leere Figur
formaler Konvention, sondern es ist von reichstem
innerem Leben — man sehe die unsagbar feine
Schwebung der Schulterlinie. Es trägt als Haupt und

Bekrönung den edlen Kopf, dessen warme Fülle in
der doppelten Rahmimg des Kragens, der Haare und
des Kranzgebindes und auf dem doppelt gestuften Sok-
kel der Kissen wunderbar anschaulich gebettet ruht.
Unsere Tafel (S. 112) zeigt das Grabmal in einer An-
sicht, in der man es für gewöhnlich nicht sehen kann:
die Ansicht von der Seite zeigt den Anblick, den es in
der Kirche bietet. Es erhebt sich nun die Frage, in
welcher Ansicht das Werk sich in seinem eigentlichen
künstlerischen Gehalt darstellt: ob die Aufstellung
das Kunstwerk in ihm „zur Schau stellt" oder seine
Sicht verbirgt. Zwar ist die Figur liegend und nicht
stehend gemeint, aber sie ist nicht von der Seite als
Gesamtbild geformt, sondern das eigentliche geschlos-
sene Gesamtbild ist in der Vorderansicht enthalten.
Die Linien des Gewandes entfalten sich erst hier in
ihrem ganzen bildnerischen Reichtum, schließen sich
erst hier zu der Ganzheit eines in sich ruhenden Bil-
des zusammen. Der Blickpunkt, den der Betrachter
einnimmt, ist also nicht derjenige, den der Künstler
einnahm beim Erfinden und Schaffen: der Betrachter
kann also das eigentlich nicht sehen, was der Künstler
schuf. Deshalb bleibt hier — wie bei vielen solchen
Sarkophagfiguren — eine Frage offen: ob die Auf-
stellung das Kunstwerk in seinem eigentlichen Ge-
halt sichtbar macht oder nicht. Das mag manchem als
eine äußerliche Frage erscheinen, da das Werk ja
greifbar „da" ist. Aber die Lösung dieser Frage ent-
scheidet darüber, ob das Werk als Kunstschöpfung,
d. h. nicht als greifbares, sondern als ideelles Gebilde
da ist oder nicht.

Darum ist die der eigentlichen Idee des Künstlers
angemessene Aufstellung — und Beleuchtung —
eines Kunstwerkes nicht eine untergeordnete ..äußer-
liche" Frage. Sondern die Aufstellung eines Bild-
werkes ist wie ein letzter Akt seiner Schöpfung, der
unerläßlich ist. wenn das Werk leben soll, nicht nur
in der Sphäre des Stofflichen, sondern in der Schau
seines erschaffenen Ideals — das ist in der Sphäre der
Kunst. EK-

III
 
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