Dichter über Kunstwerke, die sie lieben-.
Einer muß Wachen. Eine Betrachtung von Manfred Hausmann
Es ist. als schwebte um das Bildwerk, das im Deut-
schen Museum zu Berlin vor einer weiß gekalkten
Wand steht, als schwebte um diesen Christus mit
dem schlafenden Johannes an der Brust ein zarter
Goldschimmer wie ein Hauch von Verklärung und
himmlischem Licht. Die Gewänder sind mit Gold
bedeckt, das verblaßt und verwittert ist und nur am
Grunde der Falten seinen ursprünglichen Glanz be-
wahrt hat. Und in den unzähligen Bissen, die das
Holz und die Bemalung kreuz und quer durchirren,
hat sich eine mattgrüne Patina gebildet. Daher
kommt der Schimmer wohl von dem ungewissen
Gold und dem verblichenen Grün, die das Licht ge-
dämpft zurückwerfen. Auf dem mantelartigen Um-
hang, der von Christi Schultern im Bogen über die
Schultern von Johannes fällt und unten von Knie zu
Knie hinwogt, finden sich noch Spuren eines tiefen
Bots. Christus hat dunkelblondes, fast schwarzes
Haar, Johannes — wie könnte es anders sein — ganz
helles. Bröckeliges Gold und Grünspan, schwaches
Rot und ein wenig helles und dunkles Blond, das sind
die Farben.
Diese Farben und dies Licht umdämmern ein wun-
dersames Geheimnis. Ein bärtiger Mann sitzt auf-
recht da und sieht gedankenvoll und schwermütig ins
Dunkel der Welt. Und ein Jüngling sitzt neben ihm
und hat mit einer beinahe mädchenhaften Gebärde
seinen lockigen Kopf an die Brust des Gedankenvol-
len gelehnt und schläft und träumt und tastet träi;-
mend mit seiner Hand nach der Hand des anderen.
Und der andere nimmt ihn, ohne es recht zu wissen,
noch ein wenig näher zu sich heran und läßt nicht
ab. zu sinnen und zu trauern. Christus und Johannes.
Die Gruppe stammt aus Sigmaringen. Den Meister,
der sie am Anfang des vierzehnten Jahrhunderts
schnitzte, kennt man nicht. Ein zweites Bildwerk,
das diesem überaus ähnlich sieht, steht in dem ehe-
maligen Nonnenkloster Heiligkreuzthal im Oberamt
Riedlingen. Die Haltung, die Gebärde, vor allem die
Hinneigung des Johannes, die so hilflos und darum
so bewegend anmutet, ist aufs Haar die gleiche, die
Falten sind die gleichen, die Köpfe sind die gleichen,
alle Einzelheiten sind in der Anlage die gleichen,
und doch ist der Ausdruck ein vollständig anderer.
In dem Sigmaringer Werk stellt sich, obwohl es auf
den ersten Blick steifer und strenger erscheint, das
Eigentliche, das Unsagbare, das Geheimnis viel un-
mittelbarer, viel eindeutiger, viel eindringlicher dar
als in dem Heiligkreuzthaler. Dort ist es ohne weiteres
da. Hier muß es erst, wie aus einem Symbol, er-
schlossen werden.
Der Meister, der die Sigmaringer Gruppe schuf,
wußte mehr von den letzten Dingen als der andere,
der übrigens fast hundert Jahre später arbeitete. Er
hat, der spätere, das Sigmaringer Bildwerk wohl ge-
kannt, aber nicht erkannt. Er hat sich, als er seine
Gruppe schnitzte, mehr an die äußere Form gehalten
als an das. was von innen heraus die Form bestimmte.
Zu jenen Zeiten war es noch gang und gäbe, daß ein
Meister das Werk eines anderen nachbilden konnte,
ohne bei irgend jemandem, am wenigsten bei dem
andern, Anstoß zu erregen. Man kannte ja den Be-
griff des geistigen Eigentums noch nicht. Auch nicht
den eng damit verbundenen Begriff des Künstlers.
Dergleichen konnte erst Geltung gewinnen, als der
Mensch sich seiner Vereinzelung mit Stolz, wie in
der Renaissance, oder mit Gram, wie im neunzehn-
ten Jahrhundert, bewußt wurde. Im Mittelalter fühl-
ten sich die Maler. Bildhauer, Bauleute, Dichter und
Musiker durchaus als Handwerker, als Dienende.
Was sie gestalteten, war nicht nur ein Ausdruck
ihres persönlichen Empfindens, sondern zugleich des
Empfindens einer so oder so gearteten Gemeinschaft
und gehörte mithin nicht ihnen, sondern allen. Aus
einer solchen Gesinnung und Haltung gingen zum
Beispiel die Bauhütten, gingen die Malerwerkstätten
hervor, in denen Gruppen und Geschlechter von
Handwerkern sich im Dienst derselben Idee mühten.
Und diese Idee hieß unmittelbar oder mittelbar Gott.
Bauen, Bilden, Malen, Dichten, Musizieren war Got-
tesdienst. Gottesdienst nicht als Ergebnis eines per-
sönlichen Ringens und Wollens, sondern als selbst-
verständliche Voraussetzung. Noch Johann Sebastian
Bach, der, obwohl ein Kind einer anderen Zeit, ganz
aus mittelalterlichen Vorstellungen vom Wesen und
Sinn der Kunst heraus komponierte, konnte sagen:
..Des Generalbasses Finis und Endursache soll anders
nicht als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Ge-
müths sein. Wo dies nicht in acht genommen wird,
da ist's keine eigentliche Musik, sondern ein teuf-
lisches Geplärr und Gelever.""
Die Auffassung, daß, wie überall, so auch im Be-
reich der Künste, nicht der Mensch, sondern Gott,
nicht der einzelne, sondern alle, nicht das Herrschen,
sondern das Dienen, nicht das Erfinden, sondern das
Bewahren von Bedeutung sei, führte notwendiger-
weise zu einer gewissen Typisierung der Formen und
Farben. So war zum Beispiel, wenn eine Gottesmut-
ter gestaltet werden sollte, von vornherein ausge-
macht, wie sie dazustehen, welche Farben ihr Man-
tel, welche ihr Kleid aufzuweisen, wie sie das Kind
auf dem Arm zu tragen hatte und so fort. Gesetzt
den Fall, es hätten sich zehn Maler unterfangen, die
Madonna zu schaffen, jeder für sich, dann wären
zehn Bilder entstanden, die sich äußerlich sehr ähn-
lich gesehen hätten. Dieselben Farben wären erschie-
nen, derselbe Umriß, dasselbe Ausladen der Hüfte,
derselbe angewinkelte Arm mit dem Kind darauf,
dieselbe Neigung des Kopfes, dieselbe Stirn, derselbe
Haaransatz. Und doch wäre auch damals schon, da-
mals erst recht, etwas überaus Merkwürdiges und
Unbegreifliches vorgefallen. Neunmal hätte sich dem
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Einer muß Wachen. Eine Betrachtung von Manfred Hausmann
Es ist. als schwebte um das Bildwerk, das im Deut-
schen Museum zu Berlin vor einer weiß gekalkten
Wand steht, als schwebte um diesen Christus mit
dem schlafenden Johannes an der Brust ein zarter
Goldschimmer wie ein Hauch von Verklärung und
himmlischem Licht. Die Gewänder sind mit Gold
bedeckt, das verblaßt und verwittert ist und nur am
Grunde der Falten seinen ursprünglichen Glanz be-
wahrt hat. Und in den unzähligen Bissen, die das
Holz und die Bemalung kreuz und quer durchirren,
hat sich eine mattgrüne Patina gebildet. Daher
kommt der Schimmer wohl von dem ungewissen
Gold und dem verblichenen Grün, die das Licht ge-
dämpft zurückwerfen. Auf dem mantelartigen Um-
hang, der von Christi Schultern im Bogen über die
Schultern von Johannes fällt und unten von Knie zu
Knie hinwogt, finden sich noch Spuren eines tiefen
Bots. Christus hat dunkelblondes, fast schwarzes
Haar, Johannes — wie könnte es anders sein — ganz
helles. Bröckeliges Gold und Grünspan, schwaches
Rot und ein wenig helles und dunkles Blond, das sind
die Farben.
Diese Farben und dies Licht umdämmern ein wun-
dersames Geheimnis. Ein bärtiger Mann sitzt auf-
recht da und sieht gedankenvoll und schwermütig ins
Dunkel der Welt. Und ein Jüngling sitzt neben ihm
und hat mit einer beinahe mädchenhaften Gebärde
seinen lockigen Kopf an die Brust des Gedankenvol-
len gelehnt und schläft und träumt und tastet träi;-
mend mit seiner Hand nach der Hand des anderen.
Und der andere nimmt ihn, ohne es recht zu wissen,
noch ein wenig näher zu sich heran und läßt nicht
ab. zu sinnen und zu trauern. Christus und Johannes.
Die Gruppe stammt aus Sigmaringen. Den Meister,
der sie am Anfang des vierzehnten Jahrhunderts
schnitzte, kennt man nicht. Ein zweites Bildwerk,
das diesem überaus ähnlich sieht, steht in dem ehe-
maligen Nonnenkloster Heiligkreuzthal im Oberamt
Riedlingen. Die Haltung, die Gebärde, vor allem die
Hinneigung des Johannes, die so hilflos und darum
so bewegend anmutet, ist aufs Haar die gleiche, die
Falten sind die gleichen, die Köpfe sind die gleichen,
alle Einzelheiten sind in der Anlage die gleichen,
und doch ist der Ausdruck ein vollständig anderer.
In dem Sigmaringer Werk stellt sich, obwohl es auf
den ersten Blick steifer und strenger erscheint, das
Eigentliche, das Unsagbare, das Geheimnis viel un-
mittelbarer, viel eindeutiger, viel eindringlicher dar
als in dem Heiligkreuzthaler. Dort ist es ohne weiteres
da. Hier muß es erst, wie aus einem Symbol, er-
schlossen werden.
Der Meister, der die Sigmaringer Gruppe schuf,
wußte mehr von den letzten Dingen als der andere,
der übrigens fast hundert Jahre später arbeitete. Er
hat, der spätere, das Sigmaringer Bildwerk wohl ge-
kannt, aber nicht erkannt. Er hat sich, als er seine
Gruppe schnitzte, mehr an die äußere Form gehalten
als an das. was von innen heraus die Form bestimmte.
Zu jenen Zeiten war es noch gang und gäbe, daß ein
Meister das Werk eines anderen nachbilden konnte,
ohne bei irgend jemandem, am wenigsten bei dem
andern, Anstoß zu erregen. Man kannte ja den Be-
griff des geistigen Eigentums noch nicht. Auch nicht
den eng damit verbundenen Begriff des Künstlers.
Dergleichen konnte erst Geltung gewinnen, als der
Mensch sich seiner Vereinzelung mit Stolz, wie in
der Renaissance, oder mit Gram, wie im neunzehn-
ten Jahrhundert, bewußt wurde. Im Mittelalter fühl-
ten sich die Maler. Bildhauer, Bauleute, Dichter und
Musiker durchaus als Handwerker, als Dienende.
Was sie gestalteten, war nicht nur ein Ausdruck
ihres persönlichen Empfindens, sondern zugleich des
Empfindens einer so oder so gearteten Gemeinschaft
und gehörte mithin nicht ihnen, sondern allen. Aus
einer solchen Gesinnung und Haltung gingen zum
Beispiel die Bauhütten, gingen die Malerwerkstätten
hervor, in denen Gruppen und Geschlechter von
Handwerkern sich im Dienst derselben Idee mühten.
Und diese Idee hieß unmittelbar oder mittelbar Gott.
Bauen, Bilden, Malen, Dichten, Musizieren war Got-
tesdienst. Gottesdienst nicht als Ergebnis eines per-
sönlichen Ringens und Wollens, sondern als selbst-
verständliche Voraussetzung. Noch Johann Sebastian
Bach, der, obwohl ein Kind einer anderen Zeit, ganz
aus mittelalterlichen Vorstellungen vom Wesen und
Sinn der Kunst heraus komponierte, konnte sagen:
..Des Generalbasses Finis und Endursache soll anders
nicht als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Ge-
müths sein. Wo dies nicht in acht genommen wird,
da ist's keine eigentliche Musik, sondern ein teuf-
lisches Geplärr und Gelever.""
Die Auffassung, daß, wie überall, so auch im Be-
reich der Künste, nicht der Mensch, sondern Gott,
nicht der einzelne, sondern alle, nicht das Herrschen,
sondern das Dienen, nicht das Erfinden, sondern das
Bewahren von Bedeutung sei, führte notwendiger-
weise zu einer gewissen Typisierung der Formen und
Farben. So war zum Beispiel, wenn eine Gottesmut-
ter gestaltet werden sollte, von vornherein ausge-
macht, wie sie dazustehen, welche Farben ihr Man-
tel, welche ihr Kleid aufzuweisen, wie sie das Kind
auf dem Arm zu tragen hatte und so fort. Gesetzt
den Fall, es hätten sich zehn Maler unterfangen, die
Madonna zu schaffen, jeder für sich, dann wären
zehn Bilder entstanden, die sich äußerlich sehr ähn-
lich gesehen hätten. Dieselben Farben wären erschie-
nen, derselbe Umriß, dasselbe Ausladen der Hüfte,
derselbe angewinkelte Arm mit dem Kind darauf,
dieselbe Neigung des Kopfes, dieselbe Stirn, derselbe
Haaransatz. Und doch wäre auch damals schon, da-
mals erst recht, etwas überaus Merkwürdiges und
Unbegreifliches vorgefallen. Neunmal hätte sich dem
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