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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 54.1938-1939

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Kammerer, Ernst: Ein Bildnis der deutschen Renaissance
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Müller, Wolfgang: L' art pour l'art
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https://doi.org/10.11588/diglit.16487#0092

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mehr den Aufbau des Ganzen zu jenem kleinteilig
Aufgetürmten wie im Formgefüge eines echt goti-
schen Bildnisses. Wohl ist in der Linie des Umrisses
der drängende Strom spürbar, aber er treibt die Form
nicht stoßweise zu einem vielgeteilten Formbündel
empor; hier entfaltet sich die Linie in einem großen
Zug. Die breite ungeteilte Wölbung der Brust trägt
den Kopf frei wie ein mächtiger plastischer Sockel:
Sinnbildliches Formzeichen eines frei sich bewegen-
den. ..sich breitenden" Körper- und Lebensgefühles.
Darum ist die Figur nicht mehr eng vom Bahmen
umschlossen, sondern der Bahmen umfaßt sie weit
(das Blatt war ursprünglich noch größer) : nicht als
ob sie gleichsam den Baum wie zwischen enge ragen-
den Pfeilern durchschritte, sondern als ob sie in einem
weit gedehnten Baume stünde, in dem sie in siche-
rem Gefühle ihres So-Seins selbst sich dehnt.

L'art pOUr l'art. Von Wolfgang Müller

Von Burckhardt stammt die Bemerkung, daß es ein
Kunstprinzip der Antike gewesen sei, das gleiche
Motiv unendlich oft zu rezitieren, nur die Abwei-
chung vom Kanon zu suchen, die eine andere Stimme
immer dem Vorbilde einfärbt, im Gegensatz zu aller
nachantiken Kunst, die wesentlich, auch in Zeiten
eines geschlossenen Stiles, von der Veränderung, von
dem Drang zum Äußersten lebe. Schon das Ohr emp-
findet es paradox, in der Antike von einer Kunst „für
die Künstler" zu reden, von einer Kunst, die immer
den Zusammenhang mit Mythus und Beligion fest-
hielt, die Kunst als Selbstzweck nicht kannte, auch in
den dichten und für uns nicht leicht aufzulösenden
Oden des Horaz nicht, die immer mehr sind als sou-
veräne Sprache, die immer eine allgemeine und im
Persönlichsten gleichzeitig öffentliche Tendenz haben.
Aber am Ende aller nachantiken Stile finden wir das
Wort NovahV: „Kunstwerke bloß für Künstler —".
Man sollte nicht überhören, daß mit dieser Parole, so
sehr sie später mißbraucht wurde, um die pure Leere
zu rechtfertigen, auch das gemeint war: das Kunst-
werk, das vereinsamt ist und doch nicht seiner Ge-
meinde entbehren will, das Werk des einzelnen, den
nichts mehr verpflichtet als eben die Kunst, die kei-
nen Stil mehr kennt, bei der um so rascher alles zur
dürren Schale wird, und das Lebendige sich entschie-
den neue Formen suchen muß. Im 19. Jahrhundert
verstärkte sich die Möglichkeit, von Novalis ahnungs-
voll ausgesprochen, zum Kampfruf. Zum Ruf gegen
die Konvention, gegen das Klischee, für das neue
Leben, das sich heftig gegen die Ewig-Gestrigen
wandte, und dabei selten ahnte, daß der Zwiespalt
tiefer lag als in der natürlichen Trägheit der All-
gemeinheit jedem Neuen gegenüber. Auch diese
Kunst konnte und wollte nicht auf Widerhall ver-
zichten : aus Trotz wollte sie gar nicht mehr zu allen
sprechen, sondern nur noch zu den Eingeweihten, zu
dem Kreis, zu den Künstlern. Es war nicht immer

Dieses neue Lebensgefühl des selbstsicher sich brei-
tenden Körpers also hat hier in der plastisch breit sich
rundenden, der groß und frei sich aufbauenden Form
seine neue Prägung, seine bildhaften Zeichen des
neuen Stiles gefunden. Aber es hat diesen Stil sich
selbst erschaffen, nicht in fremden Vokabeln über-
nommen. Es hat den nordischen Unterton seines Emp-
findens, es hat die heimliche Gotik nicht verleugnet
und abgelegt: sie schwingt mit im Drange der Linien,
die sich nun weiten und dehnen zu einem Bild der
Benaissance, — zu einem Bild der seltenen echten
deutschen Renaissance, die wie eine letzte Blüte die
Gräber der gotischen Meister schmückt, die in den
ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts dahin-
gingen und mit ihrem Tod die große Zeit der deut-
schen Malerei beschlossen.

E.K.

Frivolität, es war vielmehr ein beinah aussichtsloser
Kampf, das wiederzugewinnen, das sich nicht mehr
wie in früheren Jahrhunderten wachstümlich ergab:
Stil, nicht nur des einzelnen, sondern des Volkes; Stil,
in dem das höchste Resultat nicht dem einfachsten
widerspricht, wie das 18. Jahrhundert noch diesen Stil
hatte, an dessen Ende die ,,Kunst der Fuge" steht, die
ihre Grundlage im mehrstimmigen Choral hat. Und
die Entschiedensten einer götterlosen Zeit, an deren
Anfang die deutende Stimme Hölderlins sich erhebt,
der der „Gemeinde Gesang" singen will, strebten
immer hinaus über das bloße Artistentum, über das
Genügen der Kunst in sich selber. Der glühende
Wunsch Van Goghs, der Maler der einfachen Herzen
zu sein, die Legende, die in den psychologischen Ro-
manen Dostojewskis Höhepunkte einnimmt als Wei-
sung und Brot für alle, der Weg Georges, der aus
dem Kreis heraus zu den Gesängen, die das Schicksal
seines Volkes meinen, führt, selbst der Weg eines
Einsamen: Bilkes Weg. führt bewußt ab von aller
„IAteratur".

Aber das Erreichte ist nicht die Kunst für Alle.
Mag man sich wie George als einsamer Warner einer
tollgewordenen Zeit entgegengesetzt fühlen, mag
man wie der späte Rilke die Einsamkeit in das feurige
Bild des Engels der „Duineser Elegien" verwandeln,
der alles Sein in Zeit und Geschichte weit überschrei-
tet, immer wird gerade die Bedeutung des Gesagten
in einem Moment liegen, der schon den Ausdruck
schwer und nicht leicht eingängig macht: in dem, was
eine Kunst als Welt an sich zieht und gestaltet. Frei-
lich, alle großen Dinge der Kunst haben und enthal-
ten die „Welt"; alles was zur Bedeutung durchdringt
ist nicht mehr nur AYiderschein der Dinge und Men-
schen, sondern lebt in jener Sphäre, in der sich Sinn-
liches und Geistiges innig durchdringen. Aber wer
den Faust sieht, kann ihn sehen als grandioses Mas-
kenspiel; er kann ihn darüber hinaus sehen als meta-

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